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Revolutionäre Landschaften – William James Lintons Kunst der grafischen Macchia

Lintoniana VI

Es waren die außergewöhnliche Intensität seiner Landschaftsdarstellungen und die grafischen Freiheiten, die er sich dabei nahm, die Linton´s Reputation als führender Vertreter der künstlerischen Xylographie im 19. Jahrhundert begründet hatten. Der Kulminationspunkt dieser jahrzehntelangen Auseinandersetzung war Mitte der sechziger Jahre erreicht, als seine beiden umfangreichen Lake Country – Zyklen erschienen waren. Mit ihnen wurde er, wie der amerikanischer Stecher John P. Davis sich 1889 im Century Magazine erinnerte, zum „Zentrum und zur Seele von allem was damals im Holzstich progressiv war.“1 Von den ersten selbstständigen Arbeiten zu Ende der 1830er Jahren bis zu den Illustrationen seiner späten Lyrikbände der 1880er Jahre begleitete ihn das Landschaftsbild als Projektionsfläche seiner radikaldemokratischen Utopien und realpolitischen Erfahrungen.

Utopische Natur

Die Serie aufwühlender Szenerien, die er 1839 für die Titelblätter seiner radikaldemokratischen Autorenzeitschrift The National. A Library for the People schuf, weisen ihn in der Expressivität der Darstellung als Zeitgenossen des dramatisierten Landschaftsideals eines Theodore Rousseau aus, des Begründers der französischen Barbizon-Schule. Einige der Lokalitäten, die er vorstellte wie Tintern Abbey, die Burg von Chillon oder die Kapelle des Wilhelm Tell waren in Entsprechung zu dem didaktischen Anspruch seines Periodikums mit Dichtungen der revolutionären Romantik verbunden. Der Eindruck von Unmittelbarkeit, den die Stiche hervorrufen, beruhte allerdings nicht auf einem direkten Natureindruck, sondern war reproduktionsgrafisch durch den impulsiven Duktus der Strichlagen und das ausdrucksvolle Clair-obscur hervorgerufen, in das Linton die zugrunde liegenden grafischen Vorlagen übersetzt hatte. Dieser Modus einer drängenden Temporalität, der in der Landschaftsgrafik dieser Zeit seines Gleichen suchte, entsprach dem Drehbuch, das der Serie zugrunde lag.

Linton: The National. A Library for the People.London 1839

Bryant / Linton: The Flood of Years. New York 1877

Für sich genommen konnte man die einzelnen Darstellungen zerstörerischer Naturgewalten und antiker Ruinen wie die des Sonnetempels von Baalek, des Colosseums in Rom oder des von Erdbeben verwüsteten Puerto Rico für Manifestationen von Edmund Burke´s pittoresker Bestimmung des Schauerlichen und Sublimen halten. Erst in der Abfolge wird evident, daß sie den Vorgaben von Comte de Volney´s anti-imperialistischem Traktat Die Ruinen, oder Betrachtungen über die Revolutionen der Reiche (1791) folgen, aus dem Linton mehrfach in der Zeitschrift zitiert.2 Die entfesselten Naturgewalten und imperialen Relikte stellen bei De Volney die regulierenden Kräfte einer Natur vor, die auf entropische Weise nach einem Zustand höchster Egalität als dem Endzweck der Schöpfung strebt. Diese eschatologische Grundierung von Linton´s Bilderfolge wird von einem zweiten Argumentationsstrang überlagert, der die mitreißende Dynamik der auf den Betrachter einstürzenden Katarakte, Stürme, Wasserfälle und Beben für ein Sinnbild der revolutionären Macht des Akkumulativen nimmt. In seinem ebenfalls 1839 entstandenen Poem The Gathering of the People hat Linton dieser Vision von der vorantreibenden Kraft der Schwarmbildung einen höchst suggestiven sprachlichen Ausdruck verliehen. Unter dem Titel Storm Song wurde es im Verlauf der 48er Erhebungen dann zu einem der zentralen Hymnen der frühen englischen Arbeiterbewegung, die auf Chartistischen Versammlungen mit Chor und musikalischer Begleitung zur Musik von Beethoven intoniert wurde.3 Viel konkreter und präziser wie viele andere republikanisch gestimmte Künstler der Zeit hat Linton das Bild unbändiger Natur als eine Spiegelung revolutionärer Kräfte interpretiert, indem er es über den Aspekt des Energetischen hinaus auch prozessual als ein Historienbild begriff. Vierzig Jahre später griff er in seinen Illustrationen zu William Cullen Bryant´s Gedichten Thanatopsis und The Flood of Years auf diese vielschichtige und dynamische Konzeption seiner Frühzeit zurück.

Die synthetische und dramatisierte Art der Naturdarstellung auf den Titelseiten des The National wurde drei Jahre später auf einer Tour, die Linton zusammen mit dem Künsterfreund Thomas Sibson in den Nordwesten von Wales unternahm, durch konkrete Anschauungen bereichert. Den Marsch von der rußgeschwärzten Industriezone Birminghams an die Waliser Küste nahmen die Beiden als einen „Gang durch die Hölle“ wahr.4 Die Erfahrung dieses krassen Gegensatzes zwischen entbehrungsreicher, inhumaner Urbanität und der sinnlichen Überfülle einer heilsamen Naturerfahrung schlug sich kurze Zeit später in der gemeinsamen Illustrationsarbeit an Linton´s zweigeteiltem Poem Bob Thin or Poorhouse Fugitive (1845) nieder. Die kernigen, aber weit weniger expressiven Schilderungen von Gebirgen und Waldlandschaften verbinden sich hier im zweiten Teil, der die von Linton selbst illustrierten naturlyrischen Abschnitte Hymn to the Sun und Song of the Stream enthält, mit der konkreten Vorstellung einer lebensreformerischen Praxis in ländlichen Gemeinschaften. In der Dichotomie des Poems zeigt sich der antizivilisatorische Rousseau´sche Grundzug des frühen Radikalismus, der den Problemen der zunehmenden Industrialisierung mit den agrarischen Konzepten einer moral ecomomy begegnen wollte.

Linton: Bob Thin or Poorhouse Fugitive (1845)

Linton / Duncan: Bob Thin or Poorhouse Fugitive (1845)

Wirkliche Natur

Das idyllische Bild ländlicher Kommunen, das im Poorhouse Fugitive -Teil von zwei weiteren künstlerischen Kollaborateuren Linton´s, von William Bell Scott und Edward Duncan gezeichnet wurde, blieb allerdings nicht lange unerwidert. Bereits ein Jahr nach der Publikation von Bob Thin erschien in der populären Illustrated London News über den ganzen Jahrgang 1846 verteilt eine aus sechs kommentierten Einzelbildern bestehende Serie von Linton und Edward Duncan, die ein weitaus realistischeres Bild des Landlebens zeichnete. Die Agricultural Pictures werfen einen schonungslosen Blick auf die Mühsal der bäuerlichen Existenz und ihre spätfeudalen Abhängigkeiten.

Die im Kontext der damaligen Pressegrafik außergewöhnlich naturalistischen Stiche zeigten, wie der Begleitkommentar scharf hervorhob, „Szenen aus dem wirklichen Leben – keine Malereikompositionen.“ Eine solch kompromisslose Auseinandersetzung mit den dunklen Seiten des Landlebens und der pastoralen Kulissenwelt, die die loyalistische Propaganda mit Hilfe der akademischen Malerei entwarf, konnte allerdings im Lager der radikalen Publizistik auf eine längere Tradition zurückblicken. John Thelwall´s subtile literarischen Beobachtungen im Zuge seiner ländlichen Streifzüge in The Peripathetic (1793) gehören ebenso dazu wie William Cobbett´s populäre Reportagen bäuerlichen Lebens, die als Rural Rides von 1822 -26 in Cobbett´s hauseigenem Political Register erschienen sind. Auch viele der Malereien des von Linton hoch geschätzten verkrachten Genremalers George Morland können einer solchen sozialkritischen Betrachtung ländlicher Verhältnisse zugeschlagen werden.5

Duncan / Linton:  Agricultural Pictures. Illustrated London News, London 1846

Die Darstellung bäuerlicher Realverhältnisse in den Agricultural Pictures können als eine Art Supplement zur kommunitaren Utopie des Bob Thin-Poems gelesen werden. Beide Werke sind vor dem Hintergrund von Forderungen führender Mitglieder der London Working Men´s Association nach einer Verstaatlichung des Grundbesitzes entstanden. Linton war einer der Hauptpropagandisten dieser Enteignungskampagne. Er unterstützte auch, obgleich mit vielen Vorbehalten, den Chartistischen Land Plan von 1845, der eine Verteilung kollektiv angekauften agrarischen Bodens an die verarmte Industriearbeiterschaft vorsah. Deren großflächige Umschulung zu Kleinbauern erwies sich als ein nahezu unlösbares Problem. Die realistischen Beschreibungen bäuerischer Tätigkeiten in Linton´s und Duncan´s Illustriertenserie erfüllten eine doppelte Funktion. Sie war Instruktion und Kritik an der herrschenden Feudalromantik zugleich. Zur Projektionsfläche für Linton´s radikaldemokratische Vision einer englischen Republik taugte das loyalistisch korrumpierte Bild der britischen Kulturlandschaft allerdings nicht.

In den frühen vierziger Jahren war Linton dem im Londoner Exil lebenden Chefideologen der italienischen Einigungsbewegung Giuseppe Mazzini begegnet. Der hatte das wiederholte Scheitern der revolutionären Erhebungen in seinem Heimatland mit einer zunehmenden Erweiterung seines nationalstaatlichen Republikanismus beantwortet; zuerst zielte sie auf einen europäischen Rahmen, dann auf einen globalen Zuschnitt. Je mehr sich Linton der Mazzini´schen Sache verschrieb, desto weiter bewegten sich auch seine politischen Ambitionen über den Tellerrand der englischen Arbeiterbewegung hinaus. Andererseits war er zunehmend mit dem Problem befasst, identitätsstiftend auf die Gründung einer nationalen Republik einzuwirken, die zusammen mit dem neuen Italien eine avantgardistische Rolle im Rahmen des globalen Demokratisierungsprozesses einnehmen könnte.

Literarisch sah er sich mit einer Herkulesaufgabe konfrontiert. 1852 veröffentlichte er in Newcastle, dem Ort, an dem bereits Jean-Paul Marat sein initiales Revolutionstraktat The Chains Of Slavery verfasst und publiziert hatte, unter dem Titel The Plaint of Freedom die poetische Historiographie dieser neuen englischen Republik. Gegründet war sie auf den Mythen des englischen Frühprotestanismus und der Puritanischen Revolution. Gleichzeitig arbeitete er von 1851-56 mit Hilfe eines internationalen Netzwerks an einem Opus, das die Konturen dieses basisdemokratischen Staatswesens plastisch ließ, der Autorenzeitschrift The English Republic. Als problematischer wie diese literarischen Begründungen erwies sich jedoch die ikonografische Fundierung eines Jungen England. Rückgriffe auf den ikonoklastischen Puritanismus waren kaum möglich und Evokationen eines imaginären Mittelalters, den sowohl William Blake, als auch die befreundeten Präraffaeliten betrieben hatte, waren nur dazu geeignet einer konservativen Feudalromantik in die Hände zu spielen. Die Verkörperung dieser nationalen republikanischen Konstitution konnte nur im Bild einer als real empfundenen prototypischen Landschaft liegen.

Patriotische Natur

Bei den Künstlern der 48er Generation stand das vermeintlich neutralere Landschaftsbild höher im Kurs als das Historienbild, da es geeignet war, das neu entstandene Nationalbewußstein nicht nur ideologisch zu begründen, sondern es auch physisch zu verorten. In Frankreich waren es vor allem die Barbizon-Künstler, in Deutschland ein Carl Friedrich Lessing, in Nordamerika die Hudson River School, die ein patriotisches Landschaftsbild kreierten, das sich im Schnittfeld zwischen heroischem Idealismus und topografischem Realismus durch die Signatur einer oft unzugänglichen Wildheit auszeichnete. Linton entdeckte seinen Idealtopos vom neuen England schließlich auf einer Reise, die ihn 1846 hoch in den Norden, in den wild romantischen Lake District führte.  Hier vermischte sich ein durch die Tradition der englischen Romantik, durch Lake-poets wie William Wordsworth, Samuel Taylor Coleridge und Robert Southey geprägtes kulturelles Klima mit Einflüssen des nahen Schottland, das die Entwicklung des englischen Radikalismus seit den Jakobitischen Aufständen durch rebellische Persönlichkeiten wie Robert Burns und Thomas Carlyle vorangetrieben hatte. Robert Owen´s kooperative Bewegung, die den Chartistischen Landplan wesentlich stimuliert hatte, war nicht weit weg in New Lanark in den schottischen Lowlands begründet worden.

Auch als diejenige Region, in der sich die höchsten Berge der Nation befinden, eigneten sich die Lakes sozusagen hervorragend zum Zweck einer symbolischen Überhöhung. Auf dem Gipfel des Helvelynn, der durch die Gesänge von Wordsworth und Walther Scott bereits in den Stand einer nationalen Ikone erhoben war, pflanzte Linton die blau-weiß-grüne Flagge auf, die er im Zuge der 48er revolutionen für die englische Republik kreiert hatte. Ihre Farbfolge war zwar an die Symbolik der französischen Trikolore angelehnt, deren blau-weiß-roter Akkord das Revolutionsmotto liberté, égalité und fraternité in Erinnerung bringen sollte, doch sowohl die horizontale Anordnung, als auch die Farbwahl verraten ihre Herkunft aus der Landschaftsimpression. Linton verwendete den insularen Dreiklang, der auch die Palette seiner Landschaftsskizzen aus dem Lake-Gebiet dominiert. “Choose for hope the sky serene, freedom Albion´s cliffs so white, / And the eternal ocean´s green choose we for our native right: / Blue and white and green shall span England´s Flag republican.” (Our Tricolour, 1848)

Linton: The English Republic. Brantwood-London 1852

Linton: The Lake Country Sketchbook. 1863 (MePri-Collection)

Eliza Lynn Linton / Linton : The Lake Country 1864

Bryant / Linton: Thanatopsis. New York 1874

B. R.Haydon: Wordsworth on Helvellyn (1842)

Neben einer Reihe von Studien zur Flora der Lakes sind zwei Skizzenbücher mit Landschaftsansichten überliefert. Eines befindet sich in der Sammlung der Yale University, ein weiteres im Linton-Archive des Melton Prior Instituts. Sie enthalten Aquarelle und Zeichnungen, die im ersten Fall zwischen Mai bis Juli 1863 entstanden sind. Die Studien des zweiten Skizzenbuchs sind  auf Wanderungen im Nordosten der Lakes auf einer Route zwischen dem Lake Ullswater und dem Helvellyn zwischen dem 23. Juni und 18. Juli des gleichen Jahres  entstanden.6  Beide Skizzenbücher dienten der Vorbereitung einer Serie von einhundert Holzstichen, die er für einen literarischen Reiseführer seiner dritten Frau, der Schriftstellerin Eliza Lynn verfertigt hatte.7  Dieser war 1864 in prächtiger Aufmachung unter dem Titel The Lake Country erschienen. Bereits fünf Jahre zuvor hatte er fünfundvierzig weitere Stiche mit Lake – Motiven für Harriet Martineau´s illustriertes Reisebuch The English Lakes angefertigt.

Obgleich sich die Motive zum Teil überschneiden, unterscheiden sich die beiden Serien in der grafischen Auffassung ganz erheblich. Während sich die erste Reihe von Stichen in Abhebung von den eher malerischen Stahlstichen und Chromolithographien des Martineau-Buchs ganz auf die grafische Kraft eines oft äußert verknappten Lineaments konzentriert, spielt Linton in den ebenfalls skizzenhaften Darstellungen des nachfolgenden Werks die malerischen Qualitäten des Tonstichs in variationsreicher Orchestrierung aus. Der große Komplex von Linton´s Lake-Stichen markiert in seiner ganzen grafischen Vielfalt und überraschenden Frische des Natureindrucks einen Höhepunkt der Landschaftskunst des 19. Jahrhunderts, der auf dem Gebiet der Druckgrafik seither unerreicht geblieben ist. Daß Linton sich gerade auf dem Gebiet von Reiseführern zu seiner hervorragendsten grafischen Leistung herausgefordert sah, hat verschiedene Gründe. Zum einen betraf sie die politische und künstlerische Pflicht, eine republikanische Ikonographie zu etablieren, in der er sich wähnte. Kaum eine andere Publikationsform hätte dem stets verschuldeten Xylographen zu Mitte des Jahrhunderts die Finanzierung eines so aufwändigen Landschaftsprojekts ermöglichen können. Zum Anderen handelte es sich dabei um eine illustratorische Königsdisziplin, denn das Genre der Lake-Führer war bereits in den 1770er Jahren durch die illustrierten Reisebeschreibungen von William Gilpin zum Musterfall einer Kunst des Pittoresken geworden und Jahrzehnte später durch William Wordsworth´ Guide to the Lakes (1810) in den Stand der Hochliteratur erhoben worden.8

Martineau / Linton: The English Lakes. London 1858

Martineau / Linton: The English Lakes. London 1858

Eliza Lynn Linton / Linton : The Lake Country 1864

Es war der Eindruck einer unmittelbaren Übersetzung von Natureindrücke, der Linton´s Lake-Stiche später zu begehrten Studienobjekte einer Genration junger impressionistischer Xylographen machte. Sie bedeuteten, wie John P. Davis bekannte, “Kunst für uns, und die Linien die er schnitt, im Angesicht der Natur, waren Gegenstand unserer Verwunderung und unseres Studiums.”9 Obgleich viele der Lake-Stiche, vor allem wenn man sie mit dem xylografischen Standard der Zeit vergleicht, tatsächlich den Eindruck vermitteln, als seinen sie direkt vorm Motiv gestochen, belegen die Skizzenbücher, daß es doch vorbereitender Studien bedurfte, um auf dem reversiven Druckbild einen topografisch einigermaßen exakten Natureindruck zu erzielen. Zumeist waren es jedoch nur die definierenden Konturlinien von Bergzüge, die er von seinen stenogrammartigen zeicherischen Notaten übernahm, um sich dann beim Stechen der Eingebung des Augenblicks und seinem eidetischen Gedächtnis zu überlassen. Letzteres vermittelte ihm dann nicht selten einen verstärkt dramatisierten Eindruck von den Szenerien.

Linton: The Lake Country Sketchbook. 1863 (MePri-Collection)

Eliza Lynn Linton / Linton : The Lake Country 1864

Eliza Lynn / Linton : The Lake Country 1864

Linton: The Flower and the Star and other Stories for Children. Boston 1868

Skizzenrevolten

In der poetischen Ausdruckskraft seiner Landschaftsdarstellungen und dem Eindruck der Unmittelbarkeit war Linton einer Forderung nachgekommen, die sein väterlicher Freund, der republikanische Kulturtheoretiker und Industrielle William Bridges Adams bereits 1833 formuliert hatte. In seinem Debütbeitrag für William Johnson Fox´The Monthly Repository hatte er für eine expressive Art der Gravur plädiert, deren Erzeugnisse, wenn sie mit poetischem Geist und unter dem Eindruck unmittelbarer Inspiration verfertigt würden, nicht länger “hölzern” daherkommen würden. Eine solche künstlerische Art der Druckgrafik sei schon alleine wegen der grösseren Verbreitung den elitären Erzeugnissen der Malerei vorzuziehen.10

Adams frühavantgardistische Anschauungen hatten sich in einem ähnlichen Umfeld von Saint Simonismus und Byronismus entwickelt, das auch die künstlerischen und politischen Ansichten des wenige Jahre jüngeren Mazzini geprägt hatte.11 Giuseppe Mazzini´s überragende Bedeutung für die Kunst seiner Zeit lag darin, daß er sie in einer messianischen Weise mit einem politischen Handlungsimperativ belegte. Die besondere Aufgabe von Kunst sah er darin “die Menschen anzuspornen ihre Gedanken in Handlung zu übersetzen.”12 Daß sich diese aktionistische Emphase, die ihm den Titel eines ”Propheten der Tat” eingehandelt hat, bei seiner künstlerischen Anhängerschaft in einer Anschauung niederschlagen konnte, die die Direktheit im künstlerischen Schaffensprozess selbst zum Programm herhob, liegt auf der Hand. Zur gleichen Zeit, als Linton in den Lakes im Milieu der Druckgrafik an einer direkten Übersetzung von Landschaftseindrücken arbeitete formierte sich in Florenz eine Gruppe künstlerischer Anhänger Mazzini´s, die die malerische Skizze, die macchia zum eigentlichen Inhalt ihrer Kunst deklarierte. Viele von ihnen, darunter auch die bekanntesten wie Giuseppe Abbati, Giovanni Fattori, Silvestro Lega und Telemaco Signorini, waren als Guerrillas oder reguläre Kämpfer in die Einigungskriege involviert gewesen. Für sie verband sich der Terminus, unter dem sie sich versammelt hatten, mit einem breiten Spektrum an Bedeutungen; zum einen mit einem proto-impressionistischen künstlerischen Zugriff, darüber hinaus mit einem nationalen republikanischen Landschaftsideal, sowie mit einem konspirativen, partisanischen Selbstverständnis. Die Macchia bezeichnet nämlich den Fleck, den Klecks, den Makel, aber auch einen Busch, sowie die charakteristische wilde Gestrüpplandschaft der Toskana, die Macchie, die Gegenstand einer Vielzahl von Landschaftsmalereien der Macchiaoli war. Mit dieser mediterranen Vegetationsformation, die sich von der Toskana bis nach Sizilien erstreckt, war wiederum eine Anzahl weiterer subversiver Begrifflichkeiten aus dem kriminellen und partisanischen Milieu assoziiert wie Falschmünzen (battere moneta alla macchia), Illegales drucken (stampare alla macchia), im Wald verstecken (fare alla macchia) und als outlaw leben (vivere alla macchia).13

Linton war 1849 mit seiner großen Familie in den Lake District nach Brantwood am Coniston Water gezogen und die Existenz, die er dort führte, lag ganz im begrifflichen und ideologischen Zuschnitt der Macchiaoli. Sein ländlicher Umzug bedeutete nach den Enttäuschungen der 48er Erhebungen und dem sich abzeichnenden Niedergang der Chartistischen Landreform-Bewegung keine Minderung seiner politischen Aktivitäten, sondern vielmehr eine Ausweitung derselben. Brantwood, das sich bereits von weitem durch die Mazzini´schen Parolen, mit denen die Wände dekoriert waren als englisches Quartier der Risorgimento – Bewegung  zu erkennen gab,14 war wie später Montana in den USA als lebensreformerischer Nucleus (macchia) einer freien Republik projektiert.15 Es war ein konspirativer Treffpunkt internationaler Patrioten, eine Druckerstätte revolutionärer Propaganda (stampare alla macchia) und vor allem ein Labor einer neuen antiautoritären Erziehung nach dem Vorbild Rousseau´s und Pestalozzi´s. Von Besuchern wurden seine Kinder als verwahrloste Wilde wahrgenommen und er selbst als ein Outlaw und Tramp. Eliza Lynn´s Biograph hat die ganze Situation als ein vivere alla macchia und fare alla macchia in der Art einer Früh-Hippie Kommune beschrieben.16

Martineau / Linton: The English Lakes. London 1858

Eliza Lynn Linton / Linton : The Lake Country 1864

Obgleich Linton durch eine Vielzahl von Unterstützungskampagnen mit der italienischen Einigungsbewegung verbunden war und sowohl über Mazzini als auch über die Rossetti-Brüder über Kontakte verfügte, lassen sich keinerlei Verbindungen zu den Macciaioli nachweisen. Zu verschieden waren die künstlerischen Bezugsrahmen. Linton´s Erneuerungsimpuls zielte nicht auf die Malerei, sondern auf die Illustrations- und Pressegrafik, deren künstlerischer Aufwertung der utilitaristisch geprägte englische Radikalismus aus bildungsethischen Gründen einen Vorrang eingeräumt hatte. Herkömmliche Illustrationsgrafik war in Linton´s Augen eine Strafarbeit (impostion) und die zeitgenössische Praxis des Holzstichs erschien ihm als schablonisiert und überfeinert in seiner zunehmenden Annährung an den Kupferstich.

Schon alleine der äußere Rahmen, in dem Linton die Lake-Stiche entwickelt hatte, machten deutlich, daß sie nicht auf den zeitgenössischen industrialisierten Standard Bezug nahmen, sondern auf die Frühzeit der Xylographie, auf die immer noch populären Grafiken der frühen Bewick-Schule.17 Wie Thomas Bewick´s berühmte Tierlexika-Illustrationen waren viele von Linton´s Landschaftsdarstellungen Einblockgravuren, die sich auf dem Papierweiß bevorzugt in der Form eines randlosen Ovals öffneten, vergleichbar den Lochblendenaufnahmen der frühen Kameras. Tom Lubbock parallelisierte die halluzinatorische Wirkungen der Bewick´schen Vignettenkunst mit den Projektionen einer Laterna magica. Indem er die Miniaturszenen rahmenlos auf dem Papiergrund freistelle, so Lubbock, habe Bewick den klassischen ausschnitthaften Fensterblick der Rennaisance aufgehoben.18

Thomas Bewick: A General History of Quadrupeds. Newcastle 1790 (reprinted by Linton in 1889)

Für Linton markierte die Einfachheit und der Erfindungsreichtum von Bewick´s Weißlinientechnik ein Ideal, auf das sich jede Form einer künstlerischen Erneuerung der Xylographie zurückbesinnen müsse, denn die Werke der frühen Bewick-Schule waren noch nicht durch Arbeitsteiligkeit und Mechanisierung korrumpiert, sondern galten als Beispiele eines kreativen Umgangs mit der Technik. Allerdings repräsentierte die ländliche Idylle, die Bewick in seinen Stichen evoziert hatte, eben jenes verhübschte Bild vom alten paternalistischen England, dem Linton und Duncan mit ihren Agricultural Pictures zu Leibe gerückt waren. Entsprechend waren Bewick´s Tierlexika-Illustrationen schon bald nach ihrem Erscheinen von Feudalromantikern im In-und Ausland in Beschlag genommen worden, darunter auch der Weimarer Geheimrat Von Goethe und sein künstlerischer Berater Johann Heinrich Meyer, die die Bewick-Stiche besonders wegen ihrer Niedlichkeit und Angenehmheit empfahlen.19 In seiner Xylografiehistorie The Masters of Wood Engraving hat Linton diese loyalistische Signatur mit dem leicht verächtlichen Attribut jovialer Gemütlichkeit (homely) versehn, und er bezog sich dabei nicht nur auf die heile, altväterliche Welt der Bewick-Stiche sondern auch auf den leicht naiven Zeichen- und Gravurstil. Dagegen hielt er eine größer Schärfe der Beobachtung, eine gesteigerte Direktheit der grafischen Übersetzung und eine größere Variabilität in der Gravurarbeit. Die Differenz zwischen dem von Linton angestrebten erhöhten Ausdruckswert, den er mit den beiden markigen Begriffen der Kühnheit (boldness) und Heftigkeit (vigorousness) umschrieb und dem frühen Holzstich zeigt sich auf prägnante Weise im Vergleich der unterschiedlichen Auffasssung und Handhabung der Landschaftsvignette.

Obgleich die Vignetten der Bewick-Schule, vor allem die phantasievollen Endstücke (tailpieces), zumeist belebte und aktionsreiche Szenerien zeigen, zeichnen sie sich durch einen Eindruck von Zeitferne und Statik aus. Tom Lubbock nimmt denn auch in der Bewick´schen Vignetten-Darstellung “ das Gegenteil eines flüchtigen Eindrucks” wahr, nämlich “einen fixierten Ausblick.” 20 Linton´s Landschaftsstiche dagegen wollen keine fernen eingefrorenen Miniaturwelten in der Art von Bewick´s Schneekugel-Universum aufschließen. Das Oval einer Szenerie definiert hier keinen stabilisierten Ausblick, sondern ein bewegliches okulares Gesichtsfeld. Der Eindruck des Transitorischen spielt in Linton´s Landschaftskunst im Gegensatz zu Bewick´s Darstellungen eine ganz wesentliche Rolle. Seine Vignetten sind flüchtige atmosphärische Einheiten, grafische Flecken, die die Frische des ersten Eindrucks transportieren.

Eliza Lynn Linton / Linton : The Lake Country 1864

Martineau / Linton: The English Lakes. London 1858

Eliza Lynn Linton / Linton : The Lake Country 1864

In seinem Essay Una teoria della macchia (1905) zitierte der Kunstphilosoph Benedetto Croce aus einem Aufsatz des italienische Kunstkritikers Vittorio Imbriani von 1868, indem dieser die macchia in der Art von Linton´s Vignetten als „das Ergebnis des ersten flüchtigen Eindrucks“ definierte, „sei es von einem Gegenstand oder von einer Szene; der erste charakteristische Effekt, der sich dem Auge des Künstlers einprägt.“21 Croce selbst beschrieb die macchia als einen bildnerischen Nukleus und parallelisierte sie mit dem dichterischen Moment einer unmittelbaren poetischen Eingebung. In Anbetracht von William Bridges Adam´s früher Forderung nach einer ausdrucksstarken Illustrationskunst, die unter dem Eindruck unmittelbarere Inspiration entsteht und Mazzini´s aktionistischem Appell zeigt sich, daß die Konzeption der macchia im republikanischen Umfeld um die Mitte des 19. Jahrhunderts längst nicht auf Italien und das Medium der Malerei zu beschränken ist.

Der Komplex von Linton´s Lake Country– Stichen markiert im Kontext grafischer Kunst in der direkten Auseinandersetzung mit den lexikalischen Illustrationen der Bewick-Schule einen vergleichbaren künstlerischen Paradigmenwechsel, wie er in den Ablösungen der Barbizon-Schule und der Macchiaioli von den spätklassizistischen und biedermeierlichen Malereitraditionen von statten gegangen war. Im Gegensatz zu der retinalen Revolution der späteren Impressionisten, die noch eine Dekade auf sich warten lassen sollte und die eine Apotheose des bürgerlichen Eskapismus darstellte, waren diese frühen Skizzen-Revolten explizit politisch motiviert und partisanisch begründet. Diese Künstler waren, wie der amerikanische Kunsthistoriker Albert Boime betonte, „selbst ernannte outlaw-sketcher – ein Begriff, den die Impressionisten, die auf soziale Legitimation scharf waren, niemals für sich akzeptiert hätten.”22

Im Rahmen von Linton´s illustratorischem Werk stellt die Lake-Phase mit ihrer intensiven Naturbeobachtung einen Höhe-und Wendepunkt dar. Nach seiner bald darauf erfolgten Emigration nach Nord-Amerika empfahl er sich dort mit dem Beispiel der Lake-Gravuren als führender Landschaftsxylograph seiner Zeit und stieg zum wichtigsten grafischen Interpreten der Hudson River School auf.23 Innerhalb des monumentalen Picturesque America – Projekts arbeitete er zu  Anfang der 1870er Jahre an vorderster Stelle daran, mit Hilfe dieser ersten Publikation, „die die gesamte kontinentale Nation feierte, (…) ein nationales Selbstbild zu konstuieren, das auf der Wiedervereingung des Nordens und Südens und der Inkorporation des Westens“ gegründet war. 24

W.C. Bryant ed. : Picturesque America or, the Land we live in. New York 1872 (French Edition,  Paris 1880)

Anmerkungen:

1)  John P. Davis in: The Century Magazine, Vol.38, August 1889

2)  Comte de Volney: Les Ruines Ou Méditations Sur Les Révolutions Des Empires, Genève 1791

3) Die Hymne The Gathering of the People (Storm Song) wurde 1848 u.a. in Linton´s und George Holyoake´s Journal The Cause of the People, in C.G. Harding´s The Republican, sowie 1850 in der erste Serie von Linton´s The English Republic abgedruckt.

4) W.J. Linton: Threescore and Ten years. Recollections. New York 1894. p. 91

5) John Barrell hat dem Thema 1980 eine maßgebliche Studie gewidmet, die allerdings die Periode der Chartistischen Landreform nicht mehr berücksichtigt: The Dark Side of the Landscape. The Rural Poor in English painting 1730-1840 (Cambridge 1980) / 1860 hat Linton ein Gemälde von George Morland, The Old Horse, im Rahmen seines reproduktionsgrafischen Kompendiums Thirty Pictures by deceased British Artists by W.J. Linton (London 1860) gestochen. Daneben findet sich auch eine xylografische Interpretation von Henry Liverseege´s Genregemälde Cobbett´s Register.

6) Das Lake – Skizzenbuch im Linton-Archive im Pocketformat (13 x 8 cm) umfasst 130 Seiten.

7) Im Februar 1863 hatte Eliza Lynn den Buchkontrakt mit dem Verleger unterzeichnet.

8) William Gilpin, der als Initiator der pittoresken Bewegung gelten kann, war in Cumbria am Rande der Lakes geboren. Einer seiner frühen illustrierten Reiseberichte ist dem Lake District gewidmet: Observations, relative chiefly to Picturesque Beauty, made in the year 1772, on several Parts of England; Particulary the Mountains, and Lakes of Cumberland, and Westmoreland. (2 vol.)

9) John P. Davis in: The Century Magazine, Vol.38, August 1889

10) William Bridges Adams: “On the State of the Fine Arts in England,” in: The Monthly Repository, Januar 1833: „Time was that engravings were mere daubs, wretched wooden – looking things (…) I could wish that the art of painter and engraver were always combined, as those of physician and chemist should ever be. The editor of the Black Dwarf ( d.i. the radical Thomas Wooler) used to set his types direct from his brain, without the intervention of a MS.; and engravers, being endowed with the genius of poetry, starting into design, might strike out many felicitous things by those flashes of the spirit, designated sudden inspiration ; and, at any rate, their hands would thus acquire greater freedom of execution.“

11) W.B. Adams gehörte denn auch 1847 zu den Gründungsmitgliedern der von Mazzini initiierten The People´s International League

12) zitiert nach: Carlotta Sorba: Communicare con il popolo, p. 78 in: Christopher Alan Bayly, Eugenio F. Biagini ed.: Giuseppe Mazzini and the Globalization of Democratic Nationalism, Oxford 2008,

13) Albert Boime: The Art of the Macchia and the Risorgimento, Chicago 1993. p.102 ff.

14) Die Mazzini´schen Slogans des Risorgomento Ora e sempre und God and the People, die die Wände von Brantwood zierten, wurden vom nachfolgenden Besitzer des Anwesens John Ruskin entfernt.

15) 1871 war er als Agent des sozialistisch gesinnten Unternehmers Edmund Davis in Pläne involviert, die eine englische Kolonie „als republikanischen Nukleus“ in Montana etablieren wollte.

16) George Somes Layard verglich in seiner Biographie von Eliza Lynn die Lebensumstände in Brantwood mit den chaotischen und schmutzigen Verhältnissen im “Wigwam eines Cherokee Indianers.” (Mrs Lynn Linton Her Life Letters & Opinions, London 1901)

17) Zu Thomas Bewick´s maßgeblichen Werken, die im Vignettenstil illustriert waren, zählen A General History of Quadrupeds, Newcastle 1790 und History of British Birds, Newcastle 1797

18) Tom Lubbock: Defining the Vignette, p. 44 in: Jonathan Watkins ed.: Thomas Bewick. Tale-Pieces. Birmingham 2009

19) Der Schweizer Kunstschriftsteller Johann Heinrich Meyer charakterisierte Thomas Bewick´s Holzstiche 1798 in den von Goethe editerten Propyläen als „fein, niedlich, angenehm.“

20) Tom Lubbock: Defining the Vignette, p. 48 in: Jonathan Watkins ed.: Thomas Bewick. Tale-Pieces. Birmingham 2009  

21) Vittorio Imbriani: La Quinta Promotrice, Neapel 1868, in: Benedetto Croce: Una teoria della macchia, Bari 1940

22) Albert Boime: The Art of the Macchia and the Risorgimento, Chicago 1993. p.12 

23) Linton´s großformatige Stiche nach Gemälden von John A.Hows und Thomas Moran waren zu Anfang der 1870er Jahre u.a. in dem frühen amerikanischen Kunstmagazin The Aldine, A Typographic Art Journal erschienen.

24) Sue Rainey in ihrer Studie zu Picturesque America or, the Land we Live in. A Delineation by Pen and Pencil. (2 Vol.) New York 1872: Creating Picturesque America. Monument to the Natural and Cultural Landscape. Nashville-London 1994

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