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John Thomas Smith und die Erfindung investigativer Sozialreportage IV: Inneres Afrika

7) Das innere Afrika

Das Genre der Kaufrufdarstellung hatte für Smith gegenüber dem Kostümbuch einen entscheidenden Vorzug. Es war ein sprechendes Medium, das mit der akustischen Vorstellung eines Originaltons verbunden war, also einer Suggestion von Unmittelbarkeit und Authentizität. Jedem Händlertypus war ein ihm eigener Spruch zugeordnet, mit dem er lauthals sein Warenangebot offerierte. In der Regel war dieser am unteren Bildrand notiert. Den Zeitgenossen müssen sich beim Durchblättern einer Kaufrufserie automatisch Erinnerungen eingestellt haben an das dichte Gewebe aus Exklamationen, das damals jedem Stadtbewohner als akustische Grundierung genauso gegenwärtig war wie heute der Verkehrslärm. Manchmal waren diese Rufe in Dialektsprache abgefasst und in einigen Fällen waren sie sogar mit musikalischen Notationen versehen, “damit man”, so ein Zeitzeuge des frühen 18. Jahrhunderts, “die eigenartigen Töne, die sie singen oder rufen, launisch auf der Violine nachspielen kann.”[1]  Smith führt in seiner Biographie zwei Beispiele solcher Notationen an.[2]

Er selbst war von der Passion durchdrungen, der Nachwelt einen möglichst großen Fundus an Originaltönen zu überliefern, durch das Aufzeichnen von Gesprächsfetzen, die Wiedergabe von prägnanten Zitaten und den Abdruck von Briefen.[3] Patchworkartig reiht er in seinen Publikationen Dialog an Dialog, Erinnerungsbruchstück an Erinnerungsbruchstück. Dahinter steckt das Kalkül des Altertumsforschers. Die Nachwelt wird sich aus diesem literarischen Scherbenhaufen an ungefilterten Informationen schon ihr eigenes Bild zusammenpuzzeln.[4] Es ist die Obsession des archäologischen Zeichners für die scheinbar wertlosen Einzelteilchen, die minute particulars [5], die sich auch in Smith´ literarischen Arbeiten niederschlägt.

J.T. Smith, Specimens of Stained Glass, in: Antiquities of Westminster, London 1817  (MePri-Coll.)

J.T. Smith, Specimens of Stained Glass, in: Antiquities of Westminster, London 1817 (MePri-Coll.)

Der Zusammenhang aus Altertumsforschung, Anekdotensammlerei und low – Genrekunst, der Smith´ Arbeit ausmacht, charakterisiert auch das Werk des Kaufruf-Forschers Comte de Caylus. Joachim Rees führt in seiner brillanten Studie ein Zitat des Grafen an, in dem  er seine Tätigkeit des Sammelns und Erforschens antiker Fragmente mit der Arbeit eines Lumpensammlers vergleicht.[6]  Das „rohe Stück“ (morceau fruste) einer antiken Alltagskultur, so schreibt er an einen befreundeten Altertumsforscher, sei für ihn nämlich weitaus aufschlussreicher als das antiquarische „Prunkstück“ (morceau d´appart), genauso wie ihn die Unterhaltung mit einem „verdreckten Mensch“ von der Straße viel mehr lehre als gestelzte Salonkonversation. Diese antiquarische Hinwendung von Caylus zu Objekten von geringerem Wert gehorcht nach Ansicht von Joachim Rees einer ganz ähnlichen Logik wie seine literarische Hinwendung zum Gossenstil, zum genre poissard. Mit seiner Anekdotensammlung Histoire de Guillaume cocher, in denen ein Kutscher Anekdoten im Straßenslang erzählt, hatte Caylus 1748 eines der Hauptwerke dieses Genres veröffentlicht.[7]

Die kulturelle Hinwendung des spätbarocken Paris zum bas peuple in den frühen Vaudevilles und anderen Spielarten von low comedy fand in England ihre Entsprechung in den Erfolgsstücken des Londoner Musiktheaters der Zeit, in John Gays Beggars Opera und Henry Fieldings Grubstreet Opera. Es war die Ära, in der sich die Figur des literarischen Großstadtflaneurs etablierte. Pioniere des Sozialjournalismus wie Ned Ward und Edward Cave unternahmen in Magazinen wie London Spy (geg. 1703) und Gentleman’s Magazine (geg. 1731) Streifzüge durch alle Quartiere der pulsierenden Metropole London.[8] John Thomas Smith konnte sich in seinem Selbstverständnis als Gegenwartsarchäologe auf dieses spätbarocke Genre digressiver Großstadtreportage berufen. In seinem posthum veröffentlichen Band An antiquarian ramble in the streets of London (1846) waren die aufgesammelten anekdotischen Scherben kartographisch angeordnet in der Form verschiedener literarischer Spaziergänge durch die Metropole. Die wesentliche Innovation im Werk von Smith vollzog sich jedoch nicht im Literarischen, sondern in der zunehmenden Fusionierung von Bild und Text, von literarischer und bildnerischer Chronistentätigkeit.

In seiner ersten Publikation Antiquities of London hatte er sich noch auf gravierte Bildunterschriften beschränkt. In den Antiquities of Westminster und der Antient Topography of London waren es bereits ganze Kommentarpassagen, die im Letternsatz gedruckt war. Die bildnerische Konzentration auf die menschliche Figur in Vagabondiana und den 1839 posthum erschienenen Cries of London war schließlich begleitet von umfänglichen Textteilen, in denen sich Smith´ Neugierde an der Mannigfaltigkeit von Charakteren, Ausdrucksweisen und biographischen Entwicklungsläufen manifestiert. Die Durchzeichnung der individuellen Züge der Vaganten, die Beschäftigung mit dem pekären Einzelfall war neu und ging über alle literarischen und bildnerischen Vorläufer hinaus. Indem er die Personen mit Namen nannte und sie stellenweise zitierte, ihnen also eine authentische Stimme verlieh, die Zeugnis ablegte von einem persönlichen Schicksal, scherte er vollends aus dem archetypischen Modus des Kaufruf-Genres aus. Es war diese Konkretisierung eines sozialen Kontextes, die sich in Smith´ Werk im Zusammenspiel von Abbildung, Kommentar und Originalzitaten ergab, die die künstlerische Genredarstellung in das neue Medium der investigativen Sozialreportage überführte.

In seiner Einleitung zu Vagabondiana unternahm Smith eine Klassifizierung der Bedürftigen in Arbeitswillige, die unterstützenswert seien und durchtriebene Faule, die als handfeste Schwindler (sturdy impostors) kein Mitleid verdient hätten. Er folgt darin dem taxonomischen Rahmen, den die puritanische Gesellschaft für die Vergabe von Hilfsleistungen gesteckt hatte. Begriffe wie Philanthropie und Charity waren in der utilitaristischen ausgerichteten Sozialpolitik der Zeit synonym mit einem ganzen Bündel von Überwachungs- und Disziplinierungsmaßnahmen, die von den Untersuchungskommissionen geplant und in kurzen Intervallen evaluiert wurden. Smith´ Einstellung zu dieser moralingetränkten Klassifizierung scheint genauso rätselhaft wie seine politischen Überzeugungen. Auf eine gewisse Ambivalenz deutet der Umstand hin, daß er ausgerechnet der Person, die er als Paradebeispiel für einen handfesten Schwindler anführt, die prägnanteste und vernünftigste Stimme verleiht.[9] Der Betreffende, dessen Gewerbe im Schnitzen von Holzketten bestand, hatte sich im Gespräch mit dem Autor nicht nur verbeten, für einen Bettler gehalten zu werden, sondern sich auch noch erdreistet mit ihm um das vereinbarte Modellhonorar zu feilschen. Selbst die vom Künstler erwartete Dankbarkeit als Gegenleistung für eine warme Mahlzeit verweigerte er mit dem Argument, dass mit seinem Konterfei nun wohl ein ganz ordentlicher Profit zu machen sei. („Now that you have draughted me off, I suppose you’ll make a fine deal of money of it.“) Auf geradezu demonstrative Weise verfehlt Smith sein erklärtes Ziel den behinderten klumpfüßigen Mann, der vertieft in seine Schnitzarbeit zeigt wird, als einen nichtsnutzigen Arbeitsschwindler vorzuführen.[10] Stattdessen präsentiert er ein Sprachrohr der Kritik, durch das sich auch ein leichter Selbstzweifel des Autors an der Respektabilität und Integrität seiner Unternehmung Bahn zu brechen scheint. Dass das Buch nämlich ein finanzieller Erfolg werden würde, konnte er sich bereits bei der Abfassung anhand der großen Anzahl der Subskribenten ausrechnen. Der Widersinn, ausgerechnet mit einer Armutsreportage mehr Profit erwirtschaftet zu haben als mit allen anderen Projekten, hat ihn später auch in seinen Memoiren beschäftigt. Die Stimme des renitenten Schnitzers blieb auch in der Folgezeit, als Pauperismus zum Stoff wurde, aus dem viktorianische Bestseller gestrickt waren, eines der wenigen kritischen Kommentare, die auf die Doppelbödigkeit dieser altruistischen Unternehmungen hinwiesen.

J.T.Smith,  Disabled Carver („Now that you have draughted me off, I suppose you’ll make a fine deal of money of it“) in: Vagabondiana,  London 1817  (MePri-Coll.)

In seinen Intentionen ging Smith in diesen späten Publikationen über die rein konservatorische Absicht eines Gegenwartsarchäologen hinaus. Er wolle damit, so heißt es in der Einleitung zu Vagabondiana,  soziale Aufklärung betreiben: „Nur wenige Personen, besonders diejenigen in gehobenen Lebensumständen, haben miterlebt oder können sich eine klare Vorstellung davon machen, auf welch verschiedenartige Weisen die untersten Klassen ihren Lebensunterhalt bestreiten.“ Die Kurzbiographien, die er anführte, dienten dabei als Fallbeispiele für den Überlebenskampf der unterbürgerlichen Schichten. In einzelnen Fällen spürte er beispielsweise den Gründen für deren Arbeitslosigkeit nach und unterfütterte so die abstrahierenden Untersuchungsberichte mit biographischen Anschaulichkeiten.

Die Erkundigungen über die Lebensumstände der Londoner Hausierer und Bettler, die Smith betrieb, kam der Erforschung eines fremden Kontinents gleich. Die Exotik der Unternehmung wurde in Vagabondiana durch die Vorstellung zweier anglo-afrikanischer Vaganten unterstrichen, des schwarzen Straßensängers Joseph Johnson, der mit einem Schiffsmodell auf dem Kopf durch die Gegend zog und des Jamaikaners Charles McGee. Ihre Porträts zählen zu den eindrücklichsten Darstellungen der Publikation. Der melancholische Grundzug erinnert an Porträtstichen von Südsee – Insulanern in den populären Reiseberichten der Cookexpedition, die 1778 erschienen sind.[11]

J.T.Smith,  Charles McGee, in: Vagabondiana,  London 1817 (MePri-Coll.)

J.T.Smith,  Joseph Johnson, in: Vagabondiana,  London 1817 (MePri-Coll.)

After William Hodges, Femme de L’Isle de Paques (Engraved by the workshop of James Basire, likely by William Blake) in: Voyage dans l’hémisphère austral, et autour de mode…, James Cook. 1777 (MePri-Coll.)

Der Schritt, die Londoner Straßenhändler und Vaganten als eigenständige Ethnie zu begreifen und in ihren Eigenheiten systematisch zu erforschen blieb Smith´ Nachfolger Henry Mayhew überlassen. Mayhew baute Smith´ investigativen Ansatz in seinem Hauptwerk London Labour and London Poor (1849-65) zu einer monumentalen Studie aus, die nach Ansicht vieler Ethnologen als bedeutendste ethnographische Arbeit seiner Zeit gelten kann.[12] Der Journalist und Dramatiker Mayhew war als Gründungsmitglied der sozialkritischen Satiremagazine Figaro in London und Punch, sowie als Mitarbeiter der Illustrated London News eine der umtriebigsten Gründergestalten der illustrierten Presse. Ende der vierziger Jahre hatte er dem Verleger des  Morning Chronicle, einem Blatt, das für seine sozialreformatorischen Kampagnen bekannt war und bei dem auch der befreundete Charles Dickens seine journalistische Karriere gestartet hatte, ein Projekt vorgeschlagen, das an Umfang und Ausmaß solitär in der Pressegeschichte bleiben sollte. Es ging dabei in seinen eigenen Worten um eine „vollständige und detaillierte Beschreibung des sittlichen, geistigen und materiellen Zustands der werktätigen Armen in England“[13]

Unter Mithilfe eines landesweiten Netz von Korrespondenten veröffentlichte Mayhew zweiundfünfzig Beiträge über die Arbeitsbedingungen von Heimarbeitern in London, die unter dem Serientitel  Labour and the Poor erschienen.[14] Sie fußen größtenteils auf Interviews, die er mit den Betroffenen entweder in seinem Büro oder vor Ort in ihrem sozialen Umfeld geführt hatte. Im Dezember 1850 wurde die Reihe auf Grund des Drucks von Anzeigenkunden eingestellt, die sich in den Beiträgen wegen ihrer Niedriglöhne kritisiert sahen.[15] Mayhew führte die Reihe daraufhin unter leicht verändertem Titel als autonome Publikationsreihe in wöchentlichen Lieferungen fort. Den thematischen Bezugsrahmen dehnte er dabei von der Industriearbeiterschaft auf das Londoner Straßenvolk aus, auf das soziale Feld also, das John Thomas Smith bereits rudimentär in Augenschein genommen hatte. Smith´ Katehorisierung der Unterschichten erweiterte er um einen dritten Posten: Those that will work, those that cannot work, and those who will not work. Auch in Mayhews Studie kamen vor allem die Originalstimmen der Betroffenen zum Tragen. Die detaillierte Herangehensweise wurden von der zeitgenössischen Kritik mit dem Heranzoomen eines Mikroskops verglichen.[16] Mayhew führte damit konsequent die gegenwartsarchäologische Lumpensammlerei der minute particulars fort, die Caylus und Smith betrieben hatten und bahnte mit seiner systematischeren Herangehensweise in den Worten des Medienhistorikers Andrew Tolson den Weg „vom sozialen Survey zur Kulturstudie.“[17]  Mayhews ausführliche Recherche zur Kultur der so genannten costermonger, der umherziehenden Obst – und  Gemüsehändler Londons, geht u.a. auf das Sozialverhalten, die Dresscodes und das spezifische Idiom dieser Ethnie ein. Die Untersuchung, die den ganzen ersten Abschnitt von London Labour and the London Poor ausmacht, gilt als Pionierleistung im Bereich der Subkulturforschung.

Die achtundachtzig Illustrationen von London Labour and the London Poor wurden größtenteils nach den Daguerreotypien des Fotografen James Beard gestochen. Beard hatte seine Motive allerdings nicht auf der Straße aufgenommen, sondern im Studio und griff bei diesen nachträglichen Inszenierungen ganz selbstverständlich auf Stereotypen des Kaufruf-Genres zurück.[18] Anders als in den Publikationen von Smith kommt den Abbildungen in London Labour and the London Poor nur eine untergeordnete, applikative Bedeutung zu. Bei Mayhew hingegen hatte sich der Textteil völlig verselbstständigt und zu einer vielstimmigen Partitur ausgewachsen. Der Erfolg von Mayhews Werk provozierte in der Folge allerdings weitere Sozialreportagen, die sich wieder stärker an der Präferenz des Visuellen in der Kaufruf-Tradition orientierten. 1876 erschien Street-life in London, eine fotografische Dokumentation über den Londoner Straßenhandel mit Aufnahmen von John Thomson und Begleittexten des Journalisten Adolphe Smith. Und schließlich war auch die populärste Pauperismus -Reportage des 19. Jhds, Gustave Dorés London Pilgrimage (1871) wesentlich von den Vorleistungen eines John Thomas Smith und Henry Mayhew inspiriert. Blanchard Jerrold, der dieses Projekt initiiert und textlich begleitet hatte, war als Schwager Mayhews mit dieser Tradition sozusagen familiär assoziiert.

After James Beard, The London Costermonger, in: Henry Mayhew, London Labour and the London Poor Vol. I, London 1861 (MePri-Coll.)

After James Beard, Long-Song Seller, in: Henry Mayhew, London Labour And The London Poor Vol. I, London 1861. (MePri-Coll.)

John Thomson, The Crawlers, in: Street – Life in London. London 1876

Henry Mayhew war von Anfang an um eine wissenschaftliche Fundierung seiner Armutsreportagen bemüht gewesen. Er versah seine lebendigen Sozialrapporte zu diesem Zweck mit langen Zahlenkolonnen der Statistical Societies und untergliederte sie kategorial. Allerdings hatte er nicht damit gerechnet, dass er sich als wissenschaftlicher Freibeuter damit den heftigen Anfeindungen von Seiten der Wirtschaftswissenschaft aussetzen würde. In seiner Untersuchung des Londoner Straßenvolks begann er daher auf einem ganz anderen wissenschaftlichen Terrain zu wildern, der Anthropologie. Er hatte sich mit der prä-darwinistischen Rassentheorie des englischen Arztes James Cowles Prichard befasst und leitete daraus die verwegene These einer universellen Existenz zweier antagonistischer Ur-Stämme ab, der Nomaden und der Siedler. Diese würden sich sowohl durch mentale als auch durch physiognomische Merkmale voneinander unterscheiden. In Vaganten, Bettlern und Prostituierten machte er die Nachfahren afrikanischer „Buschmänner und Beduinen“ aus. Was die angeborene Brutalität dieser Erznomaden angehe, so würden die urbanen Nachfahren dieses nomadischen Urstamms oft noch unterhalb der afrikanischen Kulturstufe stehen.[19]

Die viktorianische Gesellschaft verfolgte die Erschließung eines exotischen, finsteren Kontinents in ihrem Inneren mit einer Mischung aus Abscheu und voyeuristischem Kitzel. Der Nimbus, der den Berichterstatter umgab, der sich tief in die Slums des Londoner East End hinein wagte, glich dem eines gefeierten Kolonialabenteuers. Da dem Bürgertum die Welt der Armen völlig verschlossen sei, brauchte es nach Ansicht des Dichters William Thackeray eine Vermittlungstätigkeit von „hellsichtigen, energischen Männern“ wie Henry Mayhew, die „in das Land der Armen für uns reisen, und zurückkommen mit Berichten voller Entsetzen und Wunder.“[20] Die Brücke zwischen investigativer Sozialreportage und kolonialer Abenteuerliteratur, die damit geschlagen war, wurde konstitutiv für ein ganzes Genre sensationistischer Sozialberichterstattung. Zu den bekanntesten Vertretern zählen der britische Journalist James Greenwood, dessen Abenteuerreportagen aus dem Londoner East End in den 1870er Jahren populär waren, sowie dessen Nachfolger, der amerikanische Schriftsteller Jack London, der 1903 unter dem Titel People of the Abyss von seinen Streifzügen durch die Londoner Wildnis berichtete. Auch die Entwicklung der frühen Kriminalliteratur mit Meisterdetektiven wie Sherlock Holmes ist im Zusammenhang mit dieser hybriden Gattung aus Abenteuerliteratur und Sozialstudie zu sehen.

Folgenreich war auch der biologische Determinismus, der sich durch Mayhews Rassentheorie in die medialen Repräsentationen unterbürgerlicher Schichten eingeschlichen hatte. Der behutsame Impuls des Archäologen, der die graphischen Arbeiten von John Thomas Smith ausgezeichnet hatte, wurde in der Folgezeit durch reißerische Zugriffe ersetzt und die verbrauchten Kaufruf- Stereotypen gegen physiognomische Klischees eingetauscht. Der Hauch von Fremdheit und Groteske, in den Künstler wie  Bouchardon, wie Goya oder Smith die Vaganten eingehüllt hatte war einer barschen phrenologischen Gewissheit gewichen. Smith´ Visualisierung des Pauperismus war noch der Tradition von Hogarth verpflichtet gewesen, der Welt des Theaters. Vagaboniana und The Cries of London waren grafische Inszenierungen, die aus einer dramaturgisch geschickten Abfolge von Auf- und Abtritten bestanden. Mal waren seine Protagonisten dem Publikum zugewandt, mal kehrten sie ihm den Rücken zu. Es kam in diesem szenischen Wechselspiel der Vaganten eine Freiheit zur Verweigerung zum Ausdruck sowie der Respekt des Autors vor ihrer Würde und Integrität, Werte, die den von Marx als Lumpenproletariat abgestempelten Gruppierungen in den kommenden Jahrzehnten zunehmend abgesprochen werden und abhanden kommen sollten.

Alexander Roob, Februar 2010 –  August 2011 –  Oktober 2014

 J.T.Smith,  Simplers, in: The Cries of London, London 1839 (MePri-Coll.)

J.T.Smith, Samuel Horsey, known as the “King of the Beggars,” London 1817 (MePri-Coll.)

Francisco Goya, The Giant, 1818

Anmerkungen:

[1] Conrad von Uffenbach, 1710. zitiert in: Shesgreen, Sean: Images of the Outcast: The Urban Poor in the Cries of London. London 2002. S. 48 .

[2] J.T. Smith: Nollekens and His Times. London 1828 Vol. I. S. 136

[3] Allein durch Smith Aufzeichnung ist überliefert, dass William Blake die Angewohnheit hatte, seine Gedichte bei gesellschaftlichen Anlässen zu singen. Smith’ Information, dass Blakes Gesänge durch Musikprofessoren aufgezeichnet worden seien, hat sich bislang allerdings nicht bestätigt.

[4] Das Puzzle wurde in den 1760er Jahren –  zeitgleich mit der Abfassung von Sterne´s Patchworkroman „Tristram Shandy“ – von einem Kollegen von Smith erfunden, dem Reproduktionsstecher und Topographen John Spilsbury.

[5] Die “minute particulars” spielen auch eine zentrale Rolle in Blakes Kunst und Philosophie.

[6] Brief an Paolo Maria  Paciaudi vom 12.2.1758, zitiert nach: Joachim Rees: Die Kultur des Amateurs. Weimar 2006. S. 343 / auch:  Kapitel 4.5. S. 342 ff.: Der Antiquar als Lumpensammler

[7] Joachim Rees: Die Kultur des Amateurs. Weimar 2006. S. 334. Die Nähe des Cris de Paris-Zyklus von Bouchardon und Caylus  zum genre poissard wird durch die Tatsache unterstrichen, dass eine der frühsten Sammlungen dieses Genres „Écosseuses de pois ou les oeufs de páques“ (1739) mit einem Holzschnitt aus dieser Kaufruf-Serie als Frontispiz erschienen war.

[8]  Ein poetisches Äquivalent lieferte John Gay 1716 in seinem ausgedehnten urbanen Streifzug Trivia or the art of walking the streets of London

[9] J.T. Smith: Vagabondiana or Anecdotes of Mendicant Wanderers through the Streets of London; with Portraits of the Most Remarkable, Drawn from the Life. London 1817. S. 31 und 32

[10] Das Konterfei dieses „sturdy impostor“ ist die einzige Abbildung der Originalausgabe, die nicht in die populäre Reprint-Edition von 1874 aufgenommen wurde.

[11] Mit den druckgraphischen Umsetzungen der Aquarellvorlagen des Expeditionszeichners William Hodges waren damals die führenden Stecherwerkstätten Londons beschäftigt gewesen, u.a. auch die Werkstatt von James Basire. Möglicherweise kannte Smith auch die ein Jahr zuvor erschienenen inoffiziellen Reiseberichte von der Cook-Expedition, die der junge Georg Forster verfasst hatte. In A voyage around the world überlieferte in der Begründer der modernen Ethnologie ein sehr differenziertes Bild indigener Gemeinschaften. Forster überlieferte darin auch Notationen von indigenen Gesängen.

[12] Christopher Herbert: Culture and Anomie. Ethographic Imagination in the Nineteenth Cenury. Chicago 1991 / Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge. Sonderheft 35/2005: Die Zivilisierung der urbanen Nomaden. Berlin 2005

[13]   zitiert nach: Humpherys, Anne: Travels into the Poor Man´s Country. The Work of Henry Mayhew. Georgia 1977. S. 33

[14] abgedruckt in: Thompson, Edward / Eileen Yeo: The Unknown Mayhew: Selections from the Morning Chronicle, London 1971

[15] Obgleich Mayhew in seinem Einsatz für Marktregulierung und Mindestlohn und auch in seiner Kritik am Poor Law Act weitgehend mit den Forderungen der radikalen Chartisten übereinstimmte, bleibt seine politische Ausrichtung wie im Fall von Smith obskur.

[16] Humpherys, Anne: Travels into the Poor Man´s Country. The Work of Henry Mayhew.  S. 62 ff.

[17] Andrew Tolson (1990). zitiert nach: Rolf Lindner: Henry Mayhew, Stadtethnograph. in: Berliner Blätter. Ethnographische und ethnologische Beiträge. Sonderheft 35/2005: Die Zivilisierung der urbanen Nomaden. S. 15

[18] Die Daguerreotypien von James Beard sind verschollen. Überliefert sind allein die xylographischen Reproduktionen.

[19]   siehe dazu: Gertrude Himmelfarb: The Culture of Poverty. in: Dyos, Harold James / Michael Wolff: The Victorian City. Images and Realities. London 1973. Vol. II. S. 707 ff.

[20] In einer Besprechung von Mayhew´s Morning Chronicle – Beiträgen im Punch-Magazine vom 9.3.1850

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