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John Thomas Smith und die Erfindung investigativer Sozialreportage II: Republikanische Paläste

-3)  Republikanische Paläste

-4)  Exkurs I: Blakes Cottage

3) Republikanische Paläste

Remarks on Rural Scenery ist Smith’ kürzeste Publikation. Sie besteht aus einer Folge von zwanzig Radierungen, die alle „nach der Natur“ entstanden sind. Dargestellt sind ganz unterschiedliche Ausprägungen von ländlichen Armenbehausungen an der Peripherie der explodierenden Metropole London. Die Abbildungen sind mit möglichst präzisen Ortsangaben versehen, in zwei Fällen sind die Namen der Bewohner vermerkt. Des Weiteren ist ein einleitender Essay von Smith  enthalten, in dem es, wie der Untertitel zum Ausdruck bringt, um „einige Beobachtungen und Grundsätze bezüglich des Pittoresken“ geht. (Some observations ,and Precepts relative to the Picturesque)

Das Buch ist 1797 erschienen als Smith noch mit den Arbeiten an seinen Antiquities of London beschäftigt war. Die aus leichten atmosphärischen Strichlagen gewobenen Radierungen erscheinen auf den ersten Blick wie ein Gegenwurf zu der linearen Strenge der urbanen Architekturen in den Antiquities. In dem einleitenden Essay diskutiert er denn auch die ästhetischen Vorzüge von verwahrlosten Exemplaren gegenüber den ordentlichen und gepflegten Behausungen. Seine künstlerische Strategie verortet er dabei genau im Schnittpunkt von pittoresker und topografischer Tradition. Ausgangspunkt ist seine Kritik an der „abgestumpften und unachtsamen Routine der Landschaftsmalerei”, die für die Darstellung ländlicher Architekturen die ewig gleichen Stereotypen zur Anwendung bringe. Dagegen bringt er das Ethos des topografischen Zeichners in Stellung, der ganz unabhängig vom ästhetischen Kalkül eine „ortsgebundene und spezifische Wahrheit“  übermittle. Während der topografische Modus allerdings die Tendenz habe, sich in einer oft absurden und unverbundenen Detailliertheit zu verlieren gewährleiste der pittoreske Modus ein harmonisch abgerundetes Gesamtbild.[1]

Die Ausrichtung seiner Abhandlung, die über weite Strecken in der Art eines Lehrbuchs abgefasst war und sich auch und vor allem an einen engeren Kreis von Privatschülern richtete, war allerdings unmissverständlich, nämlich die Landschaftskunst von ihren generalisierenden pathetischen Tendenzen zu befreien. Daher wird bei ihm auch ein Künstler nicht erwähnt, dessen Name mit der Herausbildung des Genres der Ideallandschaft untrennbar verbunden war und dessen Nennung daher in allen Traktaten zur Landschaftsmalerei der Zeit nahezu obligatorisch war, Claude Lorrain. Stattdessen preist er Thomas Gainsborough als den ersten englischen Künstler, der den Mut gehabt habe, die sozialen Stereotypen der Landschaftsmalerei zu brechen. Dass Smith seinen Schüler John Constable mit Nachforschungen über Zeugnisse von Gainsboroughs Wirksamkeit in seiner Heimatregion beauftragt hatte und dadurch Constables Blick für die reportierenden Qualitäten von Landschaftskunst geschärft hat, zeugt von großer didaktischer Hellsichtigkeit.[2] Wie die Briefwechsel zwischen Smith und seinem Schüler belegen, nahm Constable nicht nur regen Anteil an der Entstehungsgeschichte von Smith´ Armenbehausungs- Buch, sondern war selbst auch eifrig mit Studien dazu beschäftigt. Allerdings fand keine seiner Aquarellvorlagen als Radierung Eingang in die Publikation. [3]

Neben der dokumentarischen Aufrichtigkeit, der er sich verpflichtet fand, war Smith in seinen Cottage-Stichen ganz offensichtlich auch um die Erzeugung einer größtmöglichen atmosphärischen Dichte bemüht. Er analysierte zu diesem Zweck die umfangreiche Sammlung niederländischer Landschaftsgrafik, die sich im Besitz seines Vaters, des Druckgraphikhändlers Nathaniel Smith befand, darunter auch viele Werke von Künstlern aus der Ära der Plein air– Zeichnerei der 1640iger Jahre wie Anthonie Waterloo, Jan Both und vor allem Rembrandt, dessen sehr detailgenaue Stiche von riedbedachten Bauernkaten an der Amstel das Cottage-Projekt von Smith ganz wesentlich inspiriert haben.

Rembrandt, Cottages under a stormy sky, ca. 1635 (Vienna, Albertina)

J.T.Smith, Remarks on Rural Scenery, London 1797 (MePri-Coll.)

J.T. Smith, Remarks on Rural Scenery, London 1797 (MePri-Coll.)

J.T.Smith, Remarks on Rural Scenery, London 1797 (MePri-Coll.)

Smith ging über diese niederländischen Vorbilder jedoch nicht nur in der Präzision der topographischen Bestimmungen hinaus sondern auch in der Vielfalt der graphischen Strukturen.[4] In den nervösen, flirrenden Strichlagen, in die er in einigen Darstellungen die Barackenszenerien auflöste, meint man die mit dichten Rußpartikeln geschwängerte Londoner Stadtluft ausmachen zu können. Obgleich Smith´ düstere suburbane Szenerien weit entfernt sind von dem heilen Kosmos John Constables in Suffolk, enthalten sie in ihrem dokumentarischen Realismus und in ihrem atmosphärischen präimpressionistischen Duktus doch den Schlüssel zur künstlerischen Konzeption seines Schülers. Dass der junge Constable in der Subskribentenliste mit gleich zwei reservierten Exemplaren gelistet ist verwundert daher wenig. Mit dem Genremaler John Cranch, der ebenfalls zu Constables Lehrmeistern zählte und dem Historienmaler Benjamin West finden sich noch zwei weitere Personen von kunsthistorischem Interesse in dieser eingebundenen Bestellerliste. Dass es sich bei der ebenfalls eingetragenen Person namens William Blake um den bekannten Künstlerpoeten handelt wird manchmal angenommen. Die Vermutung liegt nahe, denn immerhin war Smith als enger Freund von Blakes Lieblingsbruder Robert mit der Familie verbunden. Wahrscheinlicher jedoch ist, dass es sich bei dem William Blake Esq. nicht um den Künstler handelte, sondern um einen Sammler gleichen Namens aus Middlesex. Da die Subskribentenliste allerdings ohne Adressangaben auskommt lässt sich diese Identitätsfrage nicht eindeutig klären. Davon unabhängig gibt es allerdings triftige Gründe für die Annahme, dass der Künstler William Blake das Cottage-Buch nicht nur gekannt hat – es war die erste Publikation, die diesem Thema gewidmet war [5]  – sondern sich auch künstlerisch mit ihm auseinandergesetzt hat.

Smith war Blake nach eigenen Aussagen zum ersten Mal 1784 im Salon einer bekannten Mäzenin begegnet. Dass der Künstlerpoet auch nach dem Tod seines Bruders Robert im Jahr 1787 die Arbeit von Smith weiterhin mit Interesse verfolgt hat liegt auf der Hand, denn Blake hatte während seiner eigenen Lehrzeit wie Smith als Reproduktionsstecher für die Society of Antiquaries gearbeitet.[6] Smith hingegen zollte der druckgraphischen Meisterschaft des zehn Jahre älteren Künstlerkollegen uneingeschränkten Respekt und war sogar bemüht durch eigene Experimente dem Geheimnis seiner Illuminationskunst auf die Spur zu kommen. Er schätzte Blakes Originalität und bewunderte dessen „männlich feste Meinung.[7] Das “Wilde, Irreguläre” von Blakes Dichtkunst faszinierte ihn, allerdings blieb ihm dessen mystischer Enthusiasmus fremd und suspekt. Auch daß Blakes aufbrausender Charakter zu den Zeiten der politischen Hexenjagd des Pitt-Regimes die radikalen republikanischen Überzeugungen oft nur schwer verbergen konnte, war dem vorsichtigen Smith wohl kaum geheuer. Allerdings gibt es im Werk der beiden so unterschiedlichen Künstler eine zentrale Gemeinsamkeit, die sie über die Kunst ihrer Epoche erhob: ihre frontale Auseinandersetzung mit der Sozialmisere der Zeit.

Mit dem komplexen Gehalt von Blakes späten Dichtungen hat sich Smith nach eigenem Bekunden kaum befasst. Es wird ihm damit auch entgangen sein, dass sie eine Vielzahl von sozialkritischen Kommentaren transportieren und dass der zentrale Mythos vom gefallenen Zustand des Giganten Albion-England, der darin entwickelt wird, im Kern eine fundamentale Kritik am britischen Imperialismus enthielt sowie eine im prophetischen Duktus gehaltene Analyse der mentalen und spirituellen Folgeschäden der industriellen Revolution. Während der sozialkritische Gehalt in Blakes Werken symbolisch verrätselt blieb trat er in Smith´ Cottage-Buch offen zu Tage. Auch war Smith in keiner seiner späteren Publikationen dermaßen explizit, was seine Kritik an der sozialen Irrelevanz der Kunst seiner Zeit betraf als in den Remarks on Rural Scenery. John Barrell hat in seiner Untersuchung über die kulturellen Auswirkungen der politischen Repression zur Zeit der Koalitionskriege einige der anspielungsreichen Passagen aus Smith´ einleitendem Essay analysiert und konnte dabei nur vermuten, unter welch großem Druck der Autor bei ihrer Abfassung stand.[8] Umso mehr verwundert der offen egalitäre Ton, den Smith schon gleich in den einleitenden Sätzen anschlägt und der ganz nach dem Geschmack eines zornigen Republikaners wie William Blake gewesen sein dürfte:„Paläste, Burgen, Kirchen, Klosterruinen und die Relikte (…) unserer feudalen und ekklesiastischen Strukturen sind bis ins Detail (…) beschrieben worden, (..) während hingegen die Objekte, die man unter dem Begriff  Cottage Scenery fassen kann, beileibe nicht mit der gleichen Aufmerksamkeit gewürdigt worden sind.”

Eine solche bildnerische Beschäftigung mit den Lebensumständen der unterbürgerlichen Schichten war erst durch die ästhetische Wertschätzung des Ruinösen ermöglicht worden, die die pittoreske Bewegung in die Alltagswahrnehmung implementiert hatte. Smith´ Remarks on rural scenery war die erste Publikation, die sich dem Thema der Behausungen von Armen in einer aussagekräftigen Breite der Darstellungen gewidmet hatte. Erst fünfzig Jahre später wurde ihm mit George Godwins illustrierter Reportage London Shadows. A glance at the homes of the Thousands eine vergleichbare Publikation an die Seite gestellt, in der die hygienischen Zustände in den urbanen Slums des Londoner East End zur Darstellung kamen.[9]

George Godwin: London Shadows, A glance at the homes of the Thousands. London 1854 (MePri-Coll.)

Smith´ Plädoyer für eine “low- comedy landscape”, für eine plebejische Sorte von Landschaftskunst, die den Zustand der Verrottung und Verwahrlosung als eine sublime ästhetische Kategorie propagierte[10] war eine unverhohlene Kampfansage an die loyalistische Kulissenkunst der Zeit, die in der Darstellung der gepflegten Pastorallandschaft das reaktionäre Bild eines Merry Old England beschwor.[11]  Erst wenige Jahre zuvor hatte der radikale Journalist und Poet John Thelwall einen politischen Reiseführer durch England veröffentlicht, The Peripathetic, der das flurbereinigte Landschaftsideal der Zeit als eine Ästhetik der Tyrannei und des Exklusiven entlarvt. Eine solche Topographie der Makellosigkeit, die in den Hütten der Armen nur Mißbildungen wahrnehme, “Warzen”, die es auszubrennen gelte, legitimiert nach Thelwalls Ansicht das Unrecht gewaltsamer Landvertreibung und leiste damit einer immer größer werdenden sozialen Kluft Vorschub.[12]

Smith folgte Thelwalls Kritik indem er zwar vereinzelt Kategorien der loyalistischen Propagandaliteratur übernahm, – so klassifizierte er beispielsweise die Cottages in ordentliche (neat) und vernachlässigte (neglected) Exemplare, –  ihre Wertungen dabei jedoch auf den Kopf stellte. Während in der puritanischen Traktatliteratur einer Hannah Moore die verfallenen Zustände der Armenbehausungen mit der Faulheit und Niederträchtigkeit ihrer Besitzers assoziiert werden, die sich durch die Zurschaustellung von Verwahrlosung einen Mitleidsbonus errechnen, werden diese in den Darstellungen von Smith von Menschen bewohnt, die ihren Alltag mit einem Maß an Würde meistern, die sie in den Augen von Smith dazu qualifizieren, von ihm in einen inneren Adelsstand erhoben zu werden.[13] So überhöht er die verfallene Hütte einer Mrs. Battey in die Residenz einer Freifrau und im Titel des letzten Blatt der Radierfolge, The Palace of Lady Plomer, griff er schließlich wieder auf den revolutionären Antagonismus von Palast und Hütte zurück, mit dem er bereits seinen Essay eröffnet hatte.[14] In einer Zeit, in der die Hysterie vor einer französischen Invasion grassierte konnte eine solche Anspielung auf einen populären Kampfruf zur Niederreißung der Klassenkluft schnell unter den gefährlichen Verdacht jakobinischer Gesinnung geraten.

J.T. Smith,  Lady Plomers Palace, in:  Remarks on Rural Scenery, London 1797 (MePri-Coll.)

Diese letzte Radierung des Cottage-Zyklus Lady Plomer´s Palace hebt sich schon allein durch ihre fast formatfüllende Größe von allen vorangegangenen Blättern ab. Wie aus der Korrespondenz mit Constable hervorgeht war Smith besonders lange mit ihrer Realisierung beschäftigt. Während er in den übrigen Arbeiten der Druckfolge motivisch eng in den Grenzen der niederländischen Landschaftsgraphik verblieben war und alleine in der Konkretisierung der Ortsangabe über sie hinausgegangen war, trat er mit dieser Darstellung durch ein aufblitzendes Moment von Zeitlichkeit vollends aus dem generalisierenden Kontext des pittoresken Landschaftssujets heraus. Auch ikonisch ist die Sonderstellung dieses Blatts manifest. Die Person der Lady Plomer, die hier in sitzender Haltung neben ihrer verrotteten Behausung gezeigt wird, ist die einzige Figur in dem Radierzyklus, die durch ihre exponierte Stellung einen autonomen personalen Raum einnimmt und sich dadurch aus dem Modus der Staffage löst. Man könnte versucht sein, die Verkehrung von Arm und Reich, die Smith hier betreibt, indem er Mrs. Plomer zur Eigentümerin eines Palasts erklärt, für einen skurrilen, märchenhaften Einfall des Autors zu halten, wäre da nicht der verstörende Ausdruck der Alten. Der wirkt ganz und gar nicht versöhnlich, sondern zornig und hasserfüllt.

J.T. Smith,  Lady Plomers Palace (Detail), London 1797 (MePri-Coll.)

Zur gleichen Zeit, als Smith an dem Cottage-Projekt arbeitete, war der frühkommunistische Landreformer Thomas Spence in Newgate inhaftiert und ein Kritiker der Landvertreibung wie John Thelwall auf der ständigen Flucht vor der Lynchjustiz gekaufter King and Church – Mobs. Der Umstand, dass das unabhängige Bauerntum in England im Zuge der Industrialisierung beinahe ausgerottet war und mehr als ¾ der bebauten Fläche in die Hände weniger Großgrundbesitzer übergegangen war verleiht Smith´ emotionalisierter Darstellung ländlicher Armut eine ganz besondere Brisanz.[15] Die aggressive Atmosphäre der Lady Plomer-Szene koinzidiert mit einem  Moment der Überraschung und des Aufgeschrecktseins. Von der Alten angestiert findet sich der Betrachter der Grafik unversehens selbst in der spannungsvollen Situation verfangen. Indem er als Voyeur ertappt wird, ist es mit der Beschaulichkeit und Intimität der pittoresken Szenerie auf einen Schlag vorbei. Es ist dieser Einbruch des Instantanen in die Kontemplation von Landschaftsdarstellungen, der den Remarks on Rural Scenery am Ende ein Moment psychologischer Spannung und Härte verleiht. Wie eine Zeitkapsel erhebt sich Lady Plomer’s Palace aus dem pastoralen naturlyrischen Schleier und der historischen Entfernung als eine harsche Vision der Egalisierung von Hütten- und Palastverhältnissen .

4) Exkurs I: Blakes Cottage

Die Verschränkung von temporalen, topographischen und politischen Komponenten am Ende der Remarks on Rural Scenery blieb einzigartig in der Landschaftskunst der Zeit. In William Blakes illuminiertem Werk findet sich wenige Jahre später eine in der Suggestivkraft und dem inhärenten Überraschungsmoment ganz vergleichbare Arbeit, die nahelegt, dass Blake den Cottage-Zyklus von Smith nicht nur kannte, sondern dass er sich von ihm auch inspirieren ließ. Auf den ersten Blick mag die Vermutung überraschen, dass es gerade ein Mythomane wie Blake war mit einem Sensorium, das auf Innenschau ausgerichtet war, der sich am empfänglichsten zeigte für den innovativen Impuls der Sozialreportage seines späteren Biographen. Bei Blakes Adaption von Lady Plomer´s Palace geht es allerdings nicht um eine oberflächliche Adaption des Cottage-Themas sondern um eine Durchdringung des Akts der Reportierung in all ihren verborgenen Aspekten. Es lohnt daher ein Exkurs in die Untiefen des Blake´schen Multiversums.

Der Künstlerpoet war drei Jahre nach dem Erscheinen von Smith´ Cottage-Publikation zusammen mit seiner Frau Catherine aus der Metropole an die englischen Südküste gezogen, um sich in dem kleinen Ort Felpham niederzulassen. In mehreren Briefen an seine Londoner Bekannten pries er die Vorzüge des kleinen Ried bedachten Cottage, den sie gemietet hatten. „Our cottage is beautiful, if I should ever build a palace it would be only my cottage enlarged“, hieß es in einem Brief an den Sammler Thomas Butts, und in einem weiteren Brief an den Künstlerkollegen John Flaxman, der später in die Autographensammlung von John Thomas Smith übergegangen ist, nannte er das ländliche Anwesen „a perfect model for cottages and, I think, for palaces of magnificence.“[16]

William James Linton, Blake´s Cottage at Felpham, in: Alexander Gilchrist, Life of William Blake, London 1863 (MePri-Coll.)

Der zweijährige Aufenthalt an der Küste war von einem Ereignis überschattet, das ihn in seiner spirituellen Perspektive auf eine ideell – politische Weise mit diesem ländlichen Grundstück verbinden sollte. Im Verlauf eines Disputs mit Soldaten des Königs, die in dem Vorgarten gepöbelt hatten, sah er sich nämlich genötigt, auf handgreifliche Weise von seinem Hausrecht Gebrauch machte. Im explosiv – paranoiden Klima der Zeit hatte er sich damit eine Anklage wegen Hochverrats eingehandelt und nur mit Mühe konnte er sich während der langwierigen Gerichtsverhandlungen des lebensbedrohlichen Verdachts, ein Revolutionssympathisant zu sein, erwehren. Auf Grund diesens Akt der Verteidigung seines Hausrechts gegen einen monarchistischen Übergriff geriet ihm die Cottage-Szenerie in Felpham zum Symbol republikanischer Souveränität und hat unter diesem Vorzeichen auch an zentraler Stelle Eingang in sein illuminiertes dichterisches Werk gefunden.

William Blake, Milton a Poem, London 1804-10 (Pl. 36, Detail)

Die Darstellung Blake’s Cottage at Felpham findet sich auf Platte 36 seiner Dichtung Milton, in der die Ereignisse seines Aufenthalts in Felpham aus der spirituellen Perspektive analysiert werden. Sie zeigt den Autor selbst vor seiner Kate.[17] Die Arbeit ist solitär in Blakes Werk und von außerordentlichem Interesse. Es handelt sich nämlich um die einzige Darstellung in seinem umfangreichen bildnerischen Oeuvre, die einen deskriptiven dokumentarischen Charakter hat. Es ist Blakes einzige Arbeit, die einen definitiven Ort zeigt, einen „real view.“ Sie bildet das visuelle Herzstück seiner mystischen Raum- Zeit-Spekulationen und gab als Blake´s Kate[18] die inspirative Hintergrundsfolie für ein weiteres literarisches Experiment ab, das auf Blakes Vorbild einer extremen Kondensierung raumzeitlicher Erfahrung  gründet, für James Joyce´ Ulysses

Allen Ginsburg in front of Blake’s cottage at Felpham. November 1979. (photo: Chris Schwarz)

Blake’s Cottage at Felpham zeigt den Moment, in dem sich dem Dichter am frühen Morgen in seinem Garten angesichts der Präsenz eines himmlischen Boten die Geheimnisse der Schöpfung offenbaren. Dieser Moment fällt mit der realen Handlungszeit der Dichtung Milton zusammen, die sich auf den Bruchteil eines Augenblicks beläuft, auf „den Pulsschlag einer Arterie.“  In diesem Cottage-Moment liegen wie in einer raumzeitlichen Kapsel alle vorangegangenen und zukünftigen Ereignisse eingefaltet. Der Plot von Blakes Dichtung Milton besteht in einer visionären Analyse des Partikularen, des unverwechselbaren Einzelmoments, der Ebene also, die den Ausgangspunkt von Smith´ kunstkritischen Überlegungen bildet. Das Partikulare existiert für Blake allerdings nicht in der Möglichkeit einer Konkretisierung in Zeit und Raum, von der die sensualistische Ideologie der retinalen Kunst eines John Thomas Smith und anderer Künstlerkollegen ganz selbstverständlich ausging.[19] Für Blake gab es nur die Möglichkeit einer Konkretisierung von Zeit und Raum, und diese Erschaffung von raumzeitlichen Entitäten oder Partikel begriff er als das komplexeste und fragilste Phänomen, das überhaupt vorstellbar war, als eine andauernde schöpferische Leistung in permanenter Extase.[20] Die Dichtung Milton beschreibt die Genese eines solchen zeiträumlichen Moments, eines  minute particulars, in der Form einer Reisebewegung, einer Odyssee. Sie ist Re-portage, Zurückbringung, die genau an dem Punkt physischer Konkretion landet, von dem aus Smith und seine retinalen Künsterkollegen losfahren wollen. Doch nicht nur die Ausgangskoordinaten waren Entgegengesetzte, sondern auch die axialen Bestimmungen der Routen.

Blakes Versuch, sein Felpham – Erlebnis als einen Durchbruch des Instantanen in der Dauer des Bruchteils einer Sekunde zu inszenieren, konnte in Smith´ aufgeladener Cottage-Darstellung von Lady Plomer´s Palace eine ideale Vorlage finden. Er musste sie allerdings einer grundlegenden topografischen Revision unterziehen, denn der Ausgangspunkt seiner Dichtungen war die Vision einer als organismisch begriffenen Vierdimensionalität, die er üblicherweise im symbolischen Modus einer plastischen Körperwelt à  la  Michelangelo visualisierte. Der Darstellungsmodus einer dreidimensionalen Ansichtigkeit eines Ereignisses, eines „real view,“ konnte aus der Perspektive seiner vertikalen absteigenden Reiseroute durch die Dimensionen konsequenterweise nur in einer flächigen Projektion liegen, die jede tiefenräumliche Illusion vermied. Während die zeitliche Dimension in Lady Plomer´s Palace in der abrupten Gewahrwerdung des voyeuristischen Sogs bestand, bei der sich Smith der Mittel dreidimensionaler Illusion bedient hatte, wird der Betrachter von Blake´s Cottage in Felpham durch die abstrahierenden Flächigkeit der Darstellung, die auf die Zweidimensionalität des Papiers verweist, in den Zustand der Vergegenwärtigung des Hier und Jetzt katapultiert. Der Akt der Reportage, das scheint Blakes verborgene Botschaft an die Künstler des sensualistischen Dokumentarismus zu sein, ist eine Angelegenheit von solcher Komplexität, dass sie kein Fundament finden kann in einer einfachen Lokalisierung von Zeit und Raum. Solange die Wiedergabe eines Ereignisses undurchdrungen bleibt von ihrem emotionalen Gehalt und solange sie vor allem abgetrennt bleibt vom inneren Resonanzraum des Rezipienten bleibt sie trügerisch und irrelevant.

Lady Plomer´s Palace konnte also in mehrfacher Hinsicht inspirativ sein für Blakes zugespitzte Raumzeit-Theorie. Zum einen gab die Darstellung der Alten, die grimmig ihr Territorium gegen vereinnahmende Blicke verteidigt, das Beispiel für eine Topografie individueller Wehrhaftigkeit und republikanischer Souveränität, mit der sich Blake in der gegebenen Situation identifizieren konnte. Die egaliäre Aufladung mußte die Cottage-Szenerie in Blakes Augen hervorragend dafür qualifizieren, um an ihr ein Exempel für eine Ereignisdarstellung im dreidimensionalen Raum zu statuieren. Der innere Bruch durch den Einschluss der Rezipientenperspektive und die starke Emotionalisierung, die in Smith´ Stich der Fall sind, verweisen schon auf den Moment der Überraschung, bzw. des Schocks im Angesicht der Offenbarung, die in Blakes Darstellung visualisiert wird und die zur Offenbarung einer bodenlosen Vielansichtigkeit raumzeitlicher Momente führt.

Zu Ende der Dichtung dehnt sich Blakes ekstatische Raumzeit-Vision aus dem idyllischen Tal von Felpham über die Hügel von Surrey hinaus, um sich dann als eine düstere Wolke des Zorns auf London niederzulegen. Der  „Schrei des armen Menschen” sei darin zu vernehmen.[21]  In diesen letzten Zeilen der 1804 begonnenen Dichtung Milton dringt der Dichter wieder in die finstere Sphäre der urbanen Realität ein. Bereits eine Dekade zuvor hatte er in der Illustration seines Poems London (1791) die Sozialmisere der Metropole in der symbolischen Gestalt eines alten blinden Bettlers gefasst.[22]  London ist ein akustisches Gedicht, das vielfach widerhallt von den „Schreien”, den cries versklavter Kreaturen.[23]  „Schreie” von Städten hatten eine lange Tradition. Es gab die pittoresken „Schreie“ von Bologna, die „Schreie“ von Berlin und die „Schreie“ von Paris, doch die „Schreie“ von London waren an der Schwelle des 19. Jhds von ganz anderer Art. Blake hatte in den „Schreien“ von London bereits prophetisch die klassenkämpferische Dimension des industrialisierten Zeitalters vernommen, Smith hingegen hat sie in seinen nächsten Werken penibel dokumentiert und der Nachwelt überliefert.

William Blake, Songs of Innocence and Experience, 1794  (Pl. 46, Detail)

Anmerkungen:

[1] J.T. Smith: Remarks on Rural Scenery. S. 7 ff.

[2] J.T. Smith: A Book for a Rainy Day, or Recollections of the Events of the Years 1766-1833. London 1845. S. 161

[3] Wie eine posthume Ausgabe von weiteren Cottage-Stichen von Smith´ eigener Hand belegt, die der Verleger William Tegg 1874 unter dem Titel “Eighteen Etchings of Rural Scenery” veröffentlicht hatte, waren die “Remarks on Rural Scenery” einer sehr strengen redaktionellen Auswahl unterworfen gewesen. Alle Stiche, die sich einem generalisierenden, pastoralen Landschaftsklischee angenähert hatten, waren offensichtlich ausgeschlossen worden.

[4] „Harte und formale Linien,“ so heißt es in „Remarks on Rural Scenery,” sollten auf jeden Fall gebrochen werden, um einen pittoresken Eindruck von Irregularität und Kunstlosigkeit zu vermitteln.

[5] Ein zweites, von William Henry Pyne, sollte erst Jahre später, 1815, im Verlag von Rudolph Ackermann nachfolgen: Cottages and Farm Houses in England and Wales

[6] Im Verlaufe seiner Lehre bei dem antiquarischen Stecher James Basire war Blake 1774 mit Zeichnungsarbeiten in der Westminster Abbey beschäftigt. Die Beschäftigung mit der Gotik haben sich stilbildend auf sein weiteres künstlerisches Schaffen ausgewirkt.

[7] J.T. Smith: Nollekens and His Times; Comprehending a Life of That Celebrated Sculptor; and Memoirs of Several Contemporaries; Roubillac, Hogarth, and Reynolds, to That of Fuseli, Flaxman and Blake. London 1828. Vol. II, S. 464 ff.

[8] John Barrell : Spirit of Despotism. Invasion of Privacy in 1790s. Oxford 2006

[9] George Godwin, der Mitglied der Society of Antiquaries war, trug mit dieser Publikation, die 1854 erschienen war, sowie mit dem Nachfolgeband Town swamps and Social Bridges (1859) wesentlich zu einer Verbesserung der sanitären Situation in den Elendsgebieten bei.Eine ähnliche Wirkung hatte die illustrierte Publikation  How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York (1890)  des amerikanischen Sozialreformators und Journalisten Jacob Riis.

[10] Interessant in diesem Zusammenhang ist seine Erwähnung von niederländischen Landschaftsgrafikern aus dem Umfeld des „Bambocciade“.

[11] Siehe dazu:  John Barrell: Dark Side of the Landscape: The Rural Poor in English Painting 1730-1840. Cambridge 1987

[12] Judith Thompson ed.: John Thelwall: The Peripatetic(1793), Detroit 2001. S. 135 – 140

[13] John Barrell : Spirit of Despotism. Invasion of Privacy in 1790s. Oxford 2006. S. 220 ff.

[14] Der revolutionäre Kampfruf „guerre aux chateaux, paix aux chaumières“ (war on palaces, peace to the cottages) wird dem französischen Girondisten Sebastien Nicolas Chamfort zugeschrieben.

[15] siehe: Eric J. Hobsbawn: Industrie und Empire. Britische Wirtschaftsgeschichte seit 1750. Band 1. Frankfurt  1974.  S. 99 ff.

[16] Smith zitiert diesen Brief Blakes vom 21.9.1800 in: Nollekens and His Times. Vol. II London 1828. S. 471 ff.

[17] Der Dichter John Milton war als erster Advokat der Pressefreiheit und des Königsmords ein Säulenheiliger der französischen Jakobiner und der englischen Radikalen.

[18] Ein Joyce´scher „pun“, der die Cottage- Szenerie in Felpham mit Blakes Frau Catherine (Kate) engführt. Hintergrund ist Blakes Auffassung vom Raum als einer weiblichen Emanation.

[19] Blakes Vermessungen des visionären Raums, waren eingebettet in ein völlig konträres künstlerisches Umfeld. Etliche seiner Künstlerkollegen zählten zu den hervorragenden Exponenten der retinalen Bewegung, wie John Varley oder John Linnell. Die Konsequenz, mit der er den inneren Raum vermessen hat, findet ihre Entsprechung in der Besessenheit der Abschilderung der äußeren Netzhaut, die seine befreundeten Künstlerkollegen betrieben.

[20] Siehe hierzu: Alexander Roob, Theorie des Bildromans, Köln 1997

[21] William Blake: Milton. London 1804. Pl. 45

[22] enthalten in Blakes Gedichtsammlung: Songs of Experience, 1791

[23] „(.. ) In every cry of every man, / In every Infant’s cry of fear,/ In every voice, in every ban, / The mind – forg’d manacles I hear. / How the Chimney-sweeper’s cry / Every black’ning Church appalls;/  And the hapless Soldier’s sigh /  Runs in blood down Palace walls. /  But most thro’ midnight streets I hear / How the youthful Harlot’s curse /  Blasts the new-born infant’s tear, /  And blights with plagues the Marriage hearse.“ In den zahlreichen Interpretationen dieses berühmten Gedichts kommt dessen Verbundenheit mit der „Cries of London“-Tradition nicht zur Sprache.

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