][

Die ROSTA-Fenster der bolschewistischen Kunstarmee. Grafischer Bildjournalismus und Avantgarde

In einer Situation, in der sich die Museen unter dem Druck des Marktes zunehmend von ihrem Kerngeschäft einer historischen Grundlagenforschung zur Lage aktueller Kunst entfernen, kann es passieren, dass sie gerade darin von außergewöhnlichen Initiativen des Markts selbst überholt werden, von Galerien beispielsweise, die eine notwendige kritische Diskursbildung nun selbst in die Hand nehmen. Der Galerist Thomas Flor in Berlin leistet zurzeit genau das mit der Ausstellung eines ebenso legendären wie schwer zu kategorisierenden Schlüsselprojekts der klassischen Avantgarde, den sogenannten ROSTA-Fenstern der russischen Revolutionszeit. Diese poppigen Bildnachrichten bilden eine eigenartige Schnittstelle zwischen elitärer modernistischer Ästhetik, populärer Illustrationsgrafik, staatlicher Propaganda und kommunikativen Guerillatechniken. Die brisante Frage nach einem historischen Zusammenhang zwischen den beiden antagonistischen Ansichten von Kunst, dem formalistischen Autonomieideal, das konstitutiv für den Aufbau des Kunstmarkts der Nachkriegsära war und einer subversiven interventionistischen Praxis stellt sich anhand dieser Ausstellung neu.

ROSTA, Ausstellungsansicht Galerie Thomas Flor, Berlin 2014

ROSTA-Kollektiv, GPP 223, Juli 1921 (14 schablonengefertigte Plakate, jeweils 41 x 51 cm)

ROSTA war die Nachrichtenagentur der Bolschewisten. Sie wurde kurz nach der Oktoberrevolution gegründet. Im Februar 1919 startete der Maler und Karikaturist Mikhail Cheremnykh in Kollaboration mit dem Journalisten Nikolai Ivanov im Schaufenster eines verlassenen Konditoreigeschäfts mit dem Aushang einer visuell umgesetzten Agenturmeldung eine künstlerische Kampagne, die drei Jahre andauern sollte, von den verheerenden Jahren des Bürgerkriegs bis zur Einführung einer rudimentären Marktwirtschaft. Nach wenigen Wochen wurde diese Initiative von dem populären Revolutionsdichter Vladimir Mayakovsky aufgegriffen. Mayakovsky hatte erst kürzlich mit der Herausgabe eines Sammelbands seiner futuristischen Gedichte sowie der Aufführung eines aufwendigen Satirespektakels, des „Mysterium Buffo“ Furore gemacht. Als er an einem von Cheremnykhs ROSTA-Fenstern vorbeikam, leuchtete ihm anscheinend sofort das Potential der Initiative ein.  Wenn man seinen eigenen Angaben und denen seiner Hagiographen trauen kann, fungierte Mayakovsky schon bald neben Cheremnykh zum spiritus rector eines stetig anwachsenden Bildnachrichten-Kollektivs.

Vladimir Mayakovsky (aus: Wassili Katanian, Majakowski, Moskau 1930)

Das Projekt wurde nach Kräften von Platon Kerzhentsev, dem neuen Direktor von ROSTA unterstützt. Kerzhentsev war einer der treibenden Kräfte der avantgardistischen Proletkult-Organisation, deren Ziel die Etablierung einer autonomen Kultur der Arbeiterklasse war, die alle tradierten bürgerlichen Genres hinter sich lassen sollte. Die Revolutionierung des Ausdrucks, die Proletkult bisher vor allem im Bereich von Literatur und Theater angestrebt hatte konnte unter Mayakovskys Federführung nun auch auf den Sektor der grafischen Bildpublizistik angewandt werden.

Mayakovsky selektierte die ROSTA-Nachrichten und bereitete sie in Zusammenarbeit mit andern Dichtern und Journalisten für die bildnerische Umsetzung vor. „Der Wirkungsbereich war riesengroß: Werbearbeit für die Komintern und fürs Pilzesammeln im Interesse der Hungernden, Kampf gegen Wrangel und gegen die Typhuslaus, Plakate mit der Aufforderung, alte Zeitungsblätter aufzubewahren, und Plakate zugunsten der Elektrifizierung.“ [1]Viele der in kompakte Verse umgesetzten Meldungen gab er an befreundete Künstler wie Ivan Andrevich Maljutin,  Amshey Nurenberg, Viktor Deni, Alexander Rodchenko und Mikhail Volpi weiter, die sich mittlerweile dem Kollektiv angeschlossen hatten.[2] Neben Cheremnykh war Mayakovsky für einen Großteil der ROSTA-Grafiken verantwortlich. Er selbst taxierte seinen Anteil an der riesigen Gesamtproduktion auf 3000 Entwürfe und 6000 Bildtexte.[3]

ROSTA-Kollektiv, GPP 81-1, März 1921

ROSTA-Kollektiv, GPP 81-2, März 1921

ROSTA-Kollektiv,, GPP 81-3, März 1921

Obwohl eine individuelle Zuschreibung der unsignierten Plakate der kollektiven Intention des Projekts widerspricht und in eindeutiger Weise auch gar nicht möglich ist, lassen sich doch einige prägnante Unterscheidungsmerkmale ausmachen. Cheremnykhs Arbeiten, deren Anteil allein auf ein Drittel der Gesamtproduktion geschätzt wird, verraten beispielsweise durch ihre dynamische Handschrift und die einprägsamen Bildeinfälle den professionellen Cartoonisten. Nurenbergs Plakate wirken ebenso virtuos, sie sind jedoch zurückhaltender und detailreicher. Mayakovskys Stil ist besonders auffällig. Die Figurationen nähren sich in der minimalistischen Auffassung dem Piktogramm an; sein planimetrischer Stil ist auf grelle Farbkontraste aus, dabei wirken seine Plakate verspielter und inkohärenter als die seiner professionellen Grafikerkollegen. Die meisten Fenster, die Thomas Flor zeigt, weisen seine und Cheremnykhs Handschrift auf.

ROSTA-Kollektiv, GPP 81-4, März 1921

ROSTA-Kollektiv, GPP 81-5, März 1921

ROSTA-Kollektiv, GPP 81-6, März 1921

Die ersten Plakate waren ausschließlich an das Moskauer Publikum gerichtet, doch der Distributionsrahmen und die Größe des Kollektivs erweiterten sich schnell. Da kein funktionierendes Druckereiwesen existierte und ein Mangel an Papier herrschte wurden die ersten Plakate in kleinen Auflagen durchgepaust, danach etablierte sich ein System manueller Reproduktion mittels Schablonen, das an die Pochoirkultur der französischen Karikaturbewegung angelehnt war und eine Frühform des Siebdrucks darstellt. „Die Technik der Vervielfältigung und des Versands der Fenster geschah blitzartig,“ erinnert sich Cheremnykh. „Nach dem Erhalt des Originals hatte der Schablonenmacher am folgenden Tag schon 25 Exemplar fertiggestellt, am zweiten Tag noch weitere 50, nach ein paar Tagen war die gesamte Auflage, die ungefähr 300 Stück erreichte, fertig. Der Schablonenmacher arbeitet meist mit seiner Familie oder einem kleinen Kollektiv.“[4] Selbst aufwändigste Druckverfahren konnten in der Brillanz der Farbwirkung nicht mit dieser manuellen Methode konkurrieren. ROSTA sei, so Mayakovsky in seinen Erinnerungen von 1930, eine „phantastische Sache“ gewesen, da „sie die manuelle Bedienung eines 150- Millionen-Völkchens durch eine handvoll Künstler bedeutete.“[5] Die vervielfältigten Plakatserien – es handelt sich in der Regel  um thematische Reihen bestehend aus 4 -14 Blättern – wurden in alle Teile des Landes verschickt und kamen dort in tableauartigen Anordnungen zum Aushang.

Schablonenkolorierte Grafik der Pariser Kommune von G. Bar, 1871 (MePri-Coll.)

ROSTA-Kollektiv, GPP 213-4, Mai 1921

Die Grundvoraussetzung, um einen möglichst großen Teil der überwiegend aus Analphabeten bestehenden Gesamtbevölkerung zu erreichen bestand in der Entwicklung eines einigermaßen schlüssigen Bildzeichensystems. Die Piktogrammatik, die das ROSTA-Kollektiv im Lauf der Zeit etablierte stellt ein illustrationshistorisches Novum dar. Auf die Entwicklung der modernen Infografik hatte sie einen gravierenden Einfluss.[6]

ROSTA-Kollektiv (Mayakovsky), GPP 352-1, September 1921

Gerd Arntz, Isotypie (ca. 1940) (https://www.gerdarntz.org/)

Die kompakte Bildsprache von ROSTA lässt sich auf eine Reihe ganz unterschiedlicher Faktoren zurückführen. Zum einen waren sie technischer und organisatorischer Art und hatten mit einer rauschhaften Produktionsgeschwindigkeit zu tun, die mit den sich oft überstürzenden Nachrichtenlagen mithalten musste. “Es kam vor, dass die telegrafische Meldung von einem Frontsieg binnen vierzig Minuten bis einer Stunde schon als farbiges Plakat an den Häuserwänden hing.” [7] Auch die schnelle Schablonenvervielfältigung erforderte eine größtmögliche Verknappung der Formsprache. Und selbstverständlich spielte das primitivistische Ideal der klassischen Avantgarde eine Rolle. Explizit war bei ROSTA die Bezugnahme auf den rustikalen russischen Volksbilderbogen, den in Holz geschnittenen Lubok. Die kruden Text-Bildkombinationen der Lubki bildeten die strukturelle Vorlage der Fenster. Ganz im Gegensatz zum formalistischen Interesse Kandinskys am Lubok, das einen folkloristisch-mystizistischen Hintergrund hatte ging es den ROSTA-Künstlern um den kommunikativen Gehalt, denn in der Archaik der Darstellungen adressierten auch die alten Bilderbogen die illiterate Mehrheit der Bevölkerung. Mayakovsky hatte bereits zu Beginn des 1. Weltkriegs einschlägige bildpropagandistische Erfahrungen gesammelt als er zusammen mit Kazimir Malevich und anderen futuristischen Künstlern für den Verlag Segodnyashny lubok (Contemporary Lubok) karikatureske lithografische Poster im traditionellen Lubok-Look entwarf.

Kazimir Malevich (Bild) / Vladimir Mayakovsky (Text): “Die französischen Alliierten haben einen Korb voller besiegter deutscher Soldaten / Die englischen Brüder tragen eine Wanne mit zerfetzten deutschen Soldaten.” Segodnyashny lubok, 1914 

Dass die ROSTA-Grafik nicht nur der Archaik verpflichtet war, sondern auch auf dem Boden einer reichen politischen Illustrationskultur stand ist wenig bekannt. Russland war kein pressegrafisches Entwicklungsland. Es gab hier eine weit zurückreichende Tradition kritischer Bildpublizistik, die das zaristische Regime zwar über weite Strecken unterdrücken konnte, die sich jedoch zweimal mit Macht die Bahn brach. Die 1860er Jahre sahen nach dem Fiasko des Krimkriegs eine erste Hochphase russischer Bildsatire. Das kurze aber intensive Intermezzo wurde 1905 nach dem Petersburger Blutsonntag von einer weiteren Karikaturlawine in den Schatten gestellt. Mehr als vierhundert Satiremagazine stellten sich im Verlauf dieser ersten russischen Revolution einer Fortsetzung des autokratischen Zarenregimes entgegen.[8] Obgleich dieser Frühling der Meinungsfreiheit nur knapp zwei Jahre andauerte, reichte er doch aus, um eines der brillantesten grafischen Milieus der Zeit entstehen zu lassen und die Grundlagen für die Entwicklung einer sozialistischen Bildsprache in Russland zu implementieren. Einflussreich waren dabei vor allem zwei der international tonangebenden Satiremagazine der Zeit, der deutsche Simplicissimus und das französische Anarcho-Künstlerblatt Assiette au beurre mit Zeichnern wie Jules Grandjouan, Thomas Theodor Heine, Frantisék Kupka und Théophile-Alexandre Steinlen. Bestimmte Eigenarten des ROSTA-Stils wie z.B. die Tendenz zur verdichteten Emblematik, zur ikonischen Typografik oder auch der Einsatz konstruktivistischer Formelemente zeigten sich auf rudimentäre Weise bereits in dieser ersten Phase russischer Revolutionsgrafik.

Frantisek Kupka, Assiette au beurre, 1904 (MePri-Coll.)

Volshfon, V01-N03, 1905 (USC Digital Library, Russian Satirical Journals)

Shpilka,V00-N01, 1906 (USC Digital Library, Russian Satirical Journals)

ROSTA-Kollektiv, ROSTA 753-4, Dezember 1920

Die zweite Revolution brachte dann als künstlerisches Novum die raumzergliedernde Anschauung des Kubofuturismus ins Spiel, die allen Künstlern des ROSTA-Kollektivs gemeinsam war. Die Anwendung avantgardistischer Stile auf die Illustrationsgrafik war zu dieser Zeit in der progressiven französischen Presse bereits eine langjährige Praxis. Man kann davon ausgehen, dass die grellen spätkubistischen und cloisonistischen Illustrationen eines Jean Cocteau, Juan Gris, Paul Iribe, Gustave Jossot oder Felix Vallotton, die in international verbreiteten Satirezeitungen wie Cocorico, Le Mot oder im bereits erwähnten Assiette au beurre erschienen sind, den Künstlern des ROSTA-Kollektivs bestens bekannt waren.

Paul Iribe, in: Le Mot, No. 20, Paris 1915 (MePri-Coll.)

ROSTA-Kollektiv, GPP 331-9, September 1921

ROSTA-Kollektiv, GPP 331-5, September 1921

Die hervorragende Auswahl, die Thomas Flor in seiner Ausstellung präsentiert macht auch deutlich, dass die stilistische Zeitgenossenschaft der ROSTA-Grafik sich nicht nur auf eine Adaption der sich bereits im Abstieg befindlichen Kunst der klassischen Avantgarde beschränkte sondern auch die damals höchst aktuelle Kultur des amerikanischen Daily Strip einschloss. Kommunismus und Comic waren in der Vor-Disney-Ära noch keine oppositionellen Lager; im Gegenteil. Die slapstickartigen Funnies mit politischen Inhalten, die Ernest Riebe seit 1912 für die internationale Gewerkschaftsbewegung IWW zeichnete waren in kommunistischen Kreisen sehr populär. Vor allem die Fenster von Mikhail Cheremnykh weisen stilistisch eine auffällige Nähe zum Comic-Cartooning auf. Die Welt, die er ins Bild setzt erinnert eher an ein von lustigen Spinatmatrosen bevölkertes Coconio-Country, denn an ein vom Bürgerkrieg verwüstetes Land, in dem Kolchosebauern und Rotgardisten um ihre Existenz kämpfen. Cheremnykh hat mit dieser stilistischen Synthese aus spätkubistischer Abstraktion und Comic-Style eine Plakatkunst kreiert, die wie aus der Zeit gefallen scheint. Sie weist frappierende Parallelen zu Experimenten auf, die Jahrzehnte später unter ganz anderen Vorzeichen in den Malereien von Jean Hélion und Markus Lüpertz unternommen worden sind.

Ernest Riebe, Mr. Block invests his savings, Spokane Industrial Worker, 1912 (www.blunderbussmag.com)

ROSTA-Kollektiv (Cheremnykh), GPP 74-12, März 1921

ROSTA-Kollektiv (Cheremnykh), GPP 173-2, April 1921

Mit der Veröffentlichung der deutschen Übersetzung von Viktor Duvakins Monografie[9]  wurden die ROSTA-Fenster in den späten 1960er Jahren im Westen bekannt und übten einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen Agitprop-Kultur aus. Jörg Immendorfs und Chris Reineckes Lidl-Projekt wäre beispielsweise ohne diesen Hintergrund kaum denkbar gewesen.[10] Der kulturhistorische Bogen, den ROSTA spannt, reicht jedoch viel weiter. Mayakovskys „Tagesbefehl an die Kunstarmee“, dass „Straßen .. unsere Pinsel“ und „Plätze unsere Paletten“ seien,[11] verband die poppigen Plakataushänge im grauen Moskauer Revolutionsalltag mit den erleuchteten Schaufenstern des Pariser Verlagshauses Aubert, wo Philipons Karikaturarmee im frühen 19. Jahrhundert mit ihren lärmenden Bildkampagnen den heroischen Arbeiter erfunden, die Julimonarchie unterminiert und die Februarevolution vorbereitet hatte und die ätzenden schablonenkolorierten Satireplakate der Pariser Kommune mit dem Poster übersäten Pflasterstrand von 68, mit Streetart und Kommunikationsguerilla.

Charles Joseph Travies Aubert Editeur, 22.12.1831 (MePri-Coll.)

Les caricatures politiques (Philipons Karikatur-Fenster im Zentrum der Februar-Revolution) in: Journees Illustrees de la Revolution de 1848; Paris 1849 (MePri-Coll.)

Die Kampagne bei ROSTA wurde Anfang 1921 mit dem Weggang von Platon Kerzhentsev beendet. Danach lief sie mit einer didaktisch strikteren Konzeption noch ein weiteres Jahr unter der Schirmherrschaft von Glavpolitprosvet (GPP), einer neu gegründeten Bildungseinrichtung des Kultusministeriums. Die handgefertigten Propaganda-Bilderbogen waren mittlerweile überholt. Ihre holzschnittartige Rhetorik entsprach nicht länger den komplexeren Kommunikationsanforderungen der Aufbaujahre, außerdem distanzierte sich die Partei zunehmend von den Initiativen der futuristischen Avantgarde. Leo Trotzky, der wie Lenin anfänglich nicht frei von Sympathien für das Engagement der künstlerischen Avantgarde war, registrierte eine unüberbrückbare Kluft zwischen den kommunistischen Initiativen der Futuristen und der Mentalität der Arbeiterschaft, die seiner Ansicht nach der elitären bohemischen Provenienz der Künstlerbewegung geschuldet war.[12] Trotzkys Kritik war ausdrücklich auch auf Mayakovsky gemünzt und seine Bestrebungen, sich der Revolution dienstbar zu machen. Sie wirft vor allem die Frage auf, inwieweit die abstrahierende Bildsprache von dem „150-Millionen Völkchen“ tatsächlich angenommen wurde oder ob die Geste des Primitivismus nicht viel eher von der realitätsfernen Annahme einer einfältigen proletarischen Kultur getragen war.

Mayakovsky teilte jedenfalls Trotzkys Beobachtung, dass die proletarische Revolution die Entwicklung des individualistisch verengten Futurismus enorm befördert habe, indem sie für eine produktive Entgrenzung sorgte. Mayakovsky machte dafür vor allem die neue bildjournalistische Praxis verantwortlich, den rauschhaften künstlerischen Umgang mit Tagesaktualitäten, der zu einer „telegraphenartigen, maschinengewehrartigen Schnelligkeit“ zwang. „Wir revolutionierten damit auch den Kunstgeschmack, erhöhten die Qualifikation der Plakatkunst und der Agitationskunst. Wenn man in der Zeichenkunst von revolutionärem Stil sprechen kann – so ist es der Stil unserer Fenster gewesen.“[13] Diese Revolutionierung des Kunstgeschmacks meinte nichts anderes als eine tiefgreifende Umwertung des Ephemeren zur höchsten Realisationsform von Kunst. Das war allerdings ein Versprechen, das die klassische Avantgarde nur für einen kurzen Moment einlösen konnte. Zu sehr war sie in der Folgezeit einem noch immer anhaltenden Wertkonservatismus verpflichtet, der auf  die Frontenbildung nach dem Zweiten Weltkrieg zurückgeht. Das Fenster stand damit jedoch offen in die Sphäre eines neuen Traditionalismus sozialtechnischer Kunstpraktiken, der in den sechziger Jahren einsetzte.

Die Ausstellung ROSTA  in der Galerie Thomas Flor läuft noch bis zum 26. April

(Alle Abb. ROSTA/ GPP : Courtesy Galerie Thomas Flor, Berlin – Fotografie: Eric Tschernow)

Chris Reinecke: Mass-Stäbe, aus: Schaufenster-Bilder, 1969-71 (Courtesy Galerie Thomas Flor)

Anmerkungen

[1] Krempel Anm. 426 > Majakowski Werke, V, S. 319 f.

[2] Zur Hochphase der Plakatproduktion bestand das ROSTA-Kollektiv nach den Schätzungen von Viktor Duvakin aus über hundert Personen. (S.44)

[3] Dickermann, S.8

[4] Cheremnykh, >  Duvakin S.  43

[5] Mayakovsky, Ich bitte ums Wort (1930), > Duvakin, S.43

[6] Die Pioniere der Bildstatistik Otto Neurath und Gerd Arntz pflegten enge Kontakte nach Moskau.

[7] Mayakovsky, Ich bitte ums Wort (1930), zitiert nach Duvakin, S.66

[8] Krempel S. 105 ff.

[9] 1967 in Dresden erschienen (Originalausgabe:1938 in Moskau und Leningrad)

[10] Chis Reinecke war es auch,  die mit ihren Schaufenster-Blättern (1969-70) die ROSTA-Ausstellung bei Thomas Flor inspiriert hat.

[11] Gedicht von Mayakovsky vom 7.12.1918, zitiert nach Duvakin S. 37

[12] Leo Trotzki, Literatur und Revolution,  Wien 1924, S. 121

[13] Mayakovsky, Ich bitte ums Wort (1930), zitiert nach Duvakin, S. 66 und Krempel S. 279

 

Literatur

Leo Trotzki, Literatur und Revolution, Wien 1924

Wiktor Duwakin, ROSTA-Fenster. Majakowski als Dichter und bildender Künstler, Dresden 1967 (2. Auflage 1975)

Ulrich Krempel, Die ROSTA-Fenster und ihre Stellung in der Entwicklung einer sozialistischen Bildersprache, Dissertationsarbeit an der Ruhr-Universität Bochum 1975

David King & Cathy Porter, Blood and Laughter: Caricatures From the 1905 Revolution, London 1983

Stephen White, The Bolshevik Poster, Yale Univ. 1988

Div., Die große Utopie: Die russische und sowjetische Avantgarde 1915-32,  Frankfurt Main 1992

Div., Victor Deni, ein russischer Karikaturist im Dienst der Propaganda, Hamburg 1992

Leah Dickerman, ROSTA Bolshevik Placards 1919-1921. Handmade Political Posters from the Russian Telegraph Agency, New York 1994

Stephen P. Frank & Mark D. Steinberg ed., Cultures in Flux: Lower-Class Values, Practices, and Resistance in Late Imperial Russia, Princeton 1994

Alex Ward ed., Power to the People: Early Soviet Propaganda Posters in the Israel Museum, Jerusalem 2007

David King, Russian Revolutionary Posters, London 2012

related Posts

]
[