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Algerischer Guerillakrieg I: Auguste Raffet & Horace Vernet – Dynamisiertes Massenbild und Kunst der Rekonstruktion

Bildberichte vom algerischen Guerillakrieg I

Die Okkupation Algeriens war noch im Juni 1830, nur wenige Wochen vor dem Zusammenbruch des bourbonischen Restaurationsregimes, von Charles X mit der Einnahme Algiers eingeleitet worden. Die bourgeoise Julimonarchie unter Louis-Philippe fremdelte anfangs zwar ein wenig mit dieser Erbschaft, es stellte sich jedoch schnell heraus, dass der koloniale Raubzug nicht nur finanziell sehr attraktiv war, sondern dass er dem so genannten Bürgerkönig und seinen beiden Söhnen auch die Gelegenheit bot, sich mit einer großen imperialen Geste dynastisch zu etablieren. Nach der Ansicht des französischen Staatskundlers Alexis de Toqueville blieb Frankreich nach dem kolonialen Debakel in Nordamerika auch kaum eine andere Wahl als kompromisslos am algerischen Abenteuer fest zu halten, wolle es „nicht der Welt seinen sicheren Niedergang anzeigen.“ 1

 Charles X and the Dey of Algier, Magasin de caricatures, Paris 1830 (MePri-Coll.)

Der Gesichtsverlust hatte gedroht, als sich aus den Trümmern der gebrochenen Osmanischen Vorherrschaft über Algerien ein arabischer Widerstand zu organisieren begann, der die französischen Invasoren unter der Führung des Berberfürsten und Marabout Abd el-Kader2 von 1832 an in einen lang anhaltenden und äußerst verlustreichen Guerillakrieg verwickelte. Abd-el Kaders Erhebung war von der Vision einer nationalstaatlichen Einheit und Autonomie geprägt und unterschied sich damit grundlegend von anderen autochthonen Widerstandsbewegungen wie dem der Indigena in Nordamerika. Er markiert damit eine initiale Phase des modernen Antikolonialismus. Entsprechender Weise waren es nicht die Konterfeis französischer Militärs, die das Erscheinungsbild dieses fünfzehnjährigen Krieges in der internationalen illustrierten Presse dominierten, sondern die Ikone Abd el-Kaders. Noch vor Giuseppe Garibaldi prägte das Bild dieses algerischen Freiheitskämpfers, der zugleich religiöser Führer war, das Schema des mystisch überhöhten Guerillaführers, das im 20. Jhd in der Fotoikone Chesu Christo seinen populärsten Ausdruck gefunden hat.3

Abd-el Kader, Illustrated London News 1842 (MePri-Coll.)

Abd el-Kader, Le Monde Illustree, 1879 (MePri-Coll.)

Erst 1847 gelang es der französischen Militärmaschinerie die Oberhand zu gewinnen. Die Methoden, die sie dabei entwickelte und die genozitären Maßnahmen, die sie ergriff, machten Karriere. Ihre Spuren lassen sich bis hin zum französischen Indochinakrieg und den nordamerikanischen Kriegen in Vietnam und in Lateinamerika verfolgen. Doch auch innenpolitisch hatte der erste Algerienkrieg enorme Auswirkungen, denn er trug europaweit zu einer erheblichen Brutalisierung und Radikalisierung sozialpolitischer Konflikte bei.4

Die politische Tragweite dieses Kriegs ist also schwerlich zu unterschätzen. Nicht ausreichend erfasst worden ist hingegen seine medienhistorische Bedeutung. Zu unbedeutend schien die Bebilderung dieses randständigen Kolonialkonflikts gemessen an den stilprägenden Schilderungen der Napoleonischen Kriegen durch einen Jacques Louis David oder Antoine-Jean Gros und eher nachgeordnet sein orientalischer Zauber im Vergleich zu dem romantischen Glamour, den der griechische Unabhängigkeitskrieg versprüht hatte. Erst der multinationale Krieg, der ein Jahrzehnt  später auf der Krimhalbinsel ausgetragen wurde, hat wieder eine intensivere medienhistorische Resonanz erfahren. Als erster moderner Medienkrieg ist dieser Krimkrieg in den letzten Jahren entdeckt worden, als derjenige Konflikt, in dem eine unabhängige Presseberichterstattung auf den Plan tritt und grafische Dokumentationsweisen mit Fotografischen zu konkurrieren beginnen.5 Unterschlagen wurde dabei, daß die Grundzüge dieses neuen Bildjournalismus, der hier zur Geltung gekommen ist, bereits in den Schilderungen der französischen Algerienkampagnen entwickelt worden sind. Hier nämlich hat das moderne postklassizistische Bild vom Krieg als einer informellen Manifestation dynamisierter Massen seinen Ausgang genommen.

Bereits die Einnahme Algiers war von einem ganzen Heer von Bildberichterstattern begleitet gewesen, das den Ruhm der Expedition im Modus der napoleonischen Feldzüge verherrlichen sollte.6 Bonapartistisch geprägt war auch der offizielle Kriegsgrund, – es ging um die Nichtanerkennung napoleonischer Kriegsschulden bei der Hohen Pforte  -, und nicht nur das; vielmehr stand die gesamte Expansionspolitik Charles X. und seines Nachfolgers Louis-Philippe unter einem fatalen bonapartistischen Legitimationsdruck, der sich in entsprechender Weise auch auf die Bildpropaganda des Algerienkriegs niedergeschlagen hat. Die beiden populärsten Illustratoren der nordafrikanischen Feldzüge, der Zeichner und Lithograph Auguste Raffet und der Historienmaler Horace Vernet zählten zugleich zu den bekanntesten Vertretern der zeitgenössischen künstlerischen Napoleonverklärung.

Horace Vernet war der Sproß einer bekannten Malerdynastie. Bereits sein Vater Carle hatte sich durch besonders detailgetreute Darstellungen napoleonischer Schlachten hervorgetan, doch Horace stattete die Napoleon-Legende mit einem Grad an naturalistischer Schilderung aus, die sowohl im Bereich der Historenmalerei als auch in der Illustrationskunst ihres Gleichen suchte. Die von ihm illustrierte Historie de l´ Emperor Napoleon von 1838 war das Modell, nach dem sich der junge Lithograph Adolph Menzel bei seinen akribisch recherchierten Illustrationen zur Geschichte Friedrichs des Großen gerichtet hatte. Vernet selbst entwickelte in seinen Malereien zum Algerienkrieg parallel zur Etablierung der Daguerreotypie einen fotografischen Realismus, der auf eine ganze Generation von Historienmaler eingewirkt hat.

Atelier de Horace Vernet, L´Illustration 1863 (MePri-Coll.)

Kurz nach der Einnahme der zentralalgerischen Stadt Constantine im Oktober 1837, deren Eroberung einen Wendepunkt im Kriegsverlauf markierte, hatte Vernet von Louis Philippe den Auftrag erhalten, das Ereignis in einer episodischen Reihe von Monumentalgemälden für die neu gegründete Galerie des batailles im Schloss von Versailles darzustellen. Der König wollte mit diesem Staatsauftrag auch die Führungsrolle seines zweitältesten Sohns bei der Belagerung von Constantine bezeugen lassen. In schemenhafter napoleonischer Pose ist dieser in der rechten Hälfte des aufgewühlten Eingangsbilds dargestellt. Zwar machte Vernet hier und auch an anderen Stellen Zugeständnisse an die hierarchischen Muster des klassischen Schlachtenbilds, sein Hauptaugenmerk galt jedoch dem einfachen Soldaten, den er mit der gleichen Detailversessenheit zur Darstellung brachte wie die oberen Ränge. Von der Kritik wurden seine chaotischen Wimmelbilder als Einbruch des Journalistischen in die Sphäre heroischer Schlachtenmalerei rezipiert und selbst ein republikanischer Rezensent wie Charles Baudelaire, der Vernet wegen seines obsessiven Militarismus zutiefst verachtete, kritisierte ihn in erster Linie wegen seiner egalisierenden Detailversessenheit und seiner Verletzungen klassischer Kompositionsregeln.7

Horace Vernet : La prise de Constantine. 13 octobre 1837, 1838 (Musée national du Château de Versailles)

Während er in späteren Darstellungen des Algerienkriegs und des Krimkriegs auch auf Daguerreotypien als Hilfsmittel zurückgreifen konnte, war er bei den Rekonstruktionen der Einnahme von Constantine vorrangig auf die Verwendung von Skizzen der anwesenden Militärzeichner angewiesen. Eine Exkursion zum Schauplatz der Ereignisse, die wenig später stattfand, bot ihm dann die Gelegenheit topografische Details zu erfassen, die in seinem Versailler Studio durch die Arbeit mit Körpermodellen ergänzt wurden. Als die riesigen Prospekte des Constantine-Tryptichons im Frühjahr 1839 auf dem Pariser Salon gezeigt wurden, war der Ablauf der Ereignisse dem Publikum allerdings bereits visuell vertraut durch eine populäre Lithographieserie des Zeichners Raffet, die ganz ähnliche Motive enthielt.

Auguste Raffet: Prise De Constantine. Paris 1838 (MePri-Coll.)

Der fünfzehn Jahre jüngere Auguste Raffet war ein Schüler von Nicolas Toussaint Charlet, einem Pionier der Crayon-Lithographie. Raffet hatte sich als Zeichner im Umfeld des Schülerkreises von Antoine-Jean Gros etabliert, aus dem auch die Karikatur-Bewegung von Charles Philipon erwachsen war.8 Kurzzeitig hatte Raffet auch in Kooperation mit dem gleichaltrigen Grandville für Philipon´s Magazin La Caricature gearbeitet, es aber dann verlassen, da ihm die antimonarchistische Tendenz, die das Blatt immer mehr eingeschlagen hatte, suspekt war. Stattdessen konzentrierte er sich auf das Genre der illustrierten Napoleon-Legende, das sein Lehrer Charlet mit stetig wachsendem Erfolg etabliert hatte. Seit 1830 belieferte er diesen Markt mit der Herausgabe eines jährlichen Lithographie-Albums. Eines der verbreitesten Beispiele dieser Reihe war der aus sechs Blättern bestehende Zyklus Retraite de Constantine. Er war im Frühjahr 1837 im Verlagshaus Gilhaut Freres erschienen und schildert die Ereignisse des ersten gescheiterten Eroberungsversuchs der algerischen Festung. Den schmachvollen Rückzug, den die französische Armee im November 1836 antreten mußte, schob man vor allem auf die sibirischen Witterungsverhältnisse des hereinbrechenden Winters. Raffet, der im Gegensatz zu Horace Vernet nie einen Fuß auf algerischen Boden gesetzt hatte, griff in seinen Darstellungen vor allem auf Topoi des napoleonischen Russlandfeldzugs zurück und stellte das Kolonialabenteuer damit dezidiert in ein Kontinuum bonapartistischer Mythisierung.

Auguste Raffet: Retraite De Constantine. Paris 1837 (MePri-Coll.)

Der Hauptgegenstand von Retraite de Constantine sind die französischen Afrikamilizen, sowie die Dynamik ihrer Truppenbewegungen im Geist der Grande Armée. Topografische Details fehlen nahezu vollständig. In den Charakterisierungen der franzöischen Soldaten orientierte sich Raffet an dem ausdifferenzierten burlesken Stil seines Lehrmeisters Charlet, in den Darstellungen der arabischen Milizen hingegen griff er auf grobe rassistische Stereotypen zurück. Dies änderte sich als er sich in der Folgezeit in seiner Rekonstruktionsarbeit zunehmend einem journalistischen Ethos der Wirklichkeitstreue verpflichtet sah, der Verwandtschaften aufwies zu den Verfahren des frühen literarischen Realismus. Mit seinem grafischen Verismus antizipierte er Methoden der Pressegrafik, die sich in den frühen vierziger Jahren erst langsam aus ihren karikaturesken Anfängen herauszubilden begannen.

Im Oktober 1837 gelang schließlich nach äußert verlustreichen Auseinandersetzungen mit den Verteidigern die Einnahme von Constantine. Daß Raffets lithographischer Zyklus La Prise de Constantine, der mit doppelter Seitenanzahl im darauf folgenden Frühjahr erschienen ist, in den Charakterisierungen des Personals und der Staffage weitaus diffenzierter und authentischer daherkommt als das Vorgängeralbum, war auch einer längeren Orientreise geschuldet, die er zwischenzeitlich auf Einladung des russischen Großindustriellen und Kunstsammlers Anatole Demidoff unternommen hatte. Besonders intensiv hatte er die Verhältnisse auf der Krimhalbinsel studiert, wo Demidoff einen längeren Aufenthalt eingeplant hatte, um seine Steinkohlenbergwerke zu inspizieren.9  So schleppte sich ein Nachbild der Krim bereits in die Rekonstruktionen des Algerienkriegs ein, während Bildberichte vom Algerienkrieg dann wiederum zum Ausgangspunkt für die Reportierung des Krimkriegs wurden. Die westlichen Alliierten trafen auf der Krim nicht nur auf ähnliche geografische Verhältnisse, sondern auch auf dieselben pittoresken Uniformen der einheimischen Hilfstruppen im Algerienkrieg. Der Berberstamm der Zouaven, der im Hochland von Constantine zur Verstärkung der französischen Truppen angeworben worden war und der in Hinsicht auf Brutalität und Todesverachtung der von Louis-Philippe begründeten Fremdenlegion in nichts nachstand, dominierte nicht nur das Erscheinungsbild des nachfolgenden Krimkriegs, sondern verlieh auch später den fernen Schauplätzen des amerikanischen Bürgerkriegs und des preußisch-französischen Kriegs eine bizarre orientalische Note.

Leon Galibert, Histoire de l’Algérie ancienne et moderne. Paris 1843 (MePri-Coll.)

Während Horace Vernet mit seinen panoramartigen Monumentalgemälden den Algerienkrieg im Cinemascope-Format lieferte, zeigte Raffet die actiongeladene Heimkinoversion. Neben Francisco Goya´s Desastres de la Guerra zählt das Album La Prise de Constantine zu den frühsten und eindrücklichsten bildnerischen Dokumentionen eines Guerillakriegs.10 Ob es einen Einfluß der Kriegsgrafiken des seit Mitte der 1820er Jahre in Frankreich lebenden Spaniers auf die Konzeption der Raffet-Mappe gab, läßt sich schwerlich nachweisen. Obgleich die Desastres erst 1863 publiziert wurden, müssen einzelne Blätter daraus früh in den Pariser Künstlerkreisen zirkuliert sein, die mit Philipons Karikaturbewegung assoziiert waren. Das prominenteste Beispiel, das eine solche Vermutung nahe legt, ist Daumiers berühmte Lithographie Rue Transnonain, le 15 Avril 1834. Die Darstellung von den Opfern des militärischen Massakers an Pariser Zivilsten im Zuge eines Arbeiteraufstands weist eine auffallende Verwandtschaft zu einem Blatt aus Goya´s Zyklus auf.11 Konkreter als diese künstlerische Verwandtschaft, die das Pariser Ereignis mit Geschehnissen aus dem spanischen Bürgerkrieg verknüpft, sind allerdings die historischen Bezüge, denn die Person, die für das skrupellose Exempel, das an den Hausbewohnern in der Rue Transnonain statuiert worden ist, verantwortlich galt, Thomas Robert Bugeaud, hatte sein „Handwerk“ als Bataillonskommandeur im spanischen Unabhängigkeitskrieg gelernt, u.a. bei der von Goya vielfach illustrierten Belagerung von Saragossa.12 1836, zwei Jahre nach dem Massaker in Paris, wurde der als L’homme de la rue Transnonain bekannte Bugeaud als Guerillaspezialist nach Algerien geschickt, wo er 1840 zum Generalgouverneur aufgestiegen war. Mit seinen unkonventionellen Militärstrategien, bei der er vor allem auf mobile Terroreinheiten und eine Politik der verbrannten Erde setzte, gelang es ihm schließlich, den Siegeszug Abd el-Kaders zu beenden und das Blatt zugunsten Frankreichs zu wenden.

Honoré Daumier, Rue Transnonain, le 15 Avril 1834, 1834

Francisco Goya: Esragos de la guerra (desastres # 30), ca. 1815

Während Goya die einzelnen Begebenheiten des spanischen Volksaufstands eher als eine Hintergrundsfolie nahm, um gleichnishaft die Bestialität des Kriegs ins Bild zu setzen, ging es Raffet um eine möglichst präzise und komplexe Berichterstattung. Die einzelnen Epsisoden der Eroberung Constantines setzte er sich aus einer Vielzahl bilderischer Dokumente und Interviews mit Augenzeugen zusammen. Bis in letzte kartographische Details gingen diese Recherchen und eidetischen Anstrengungen nach eigenem Bekunden.13 Die verlustreiche Einnahme der Stadt versuchte er dabei auf eine filmische Weise zur Anschauung zu bringen, in einer Abfolge von Totalen und Halbtotalen, in der sich die Perspektiven der Invasoren mit denen der einheimischen Verteidiger abwechseln. Die einzelnen Szenen urbanen Guerrillakampfs, die er dabei schilderte, wie Heckenschützenattacken, Sprengstoff-Fallen und Razzien sollten sich als charakteristisch für die Terrorstrategien der Befreiungskriege des 20. und 21. Jahrhunderts herausstellen. Sowohl in künstlerischer als auch in inhaltlicher Hinsicht verhält sich Raffets La Prise de Constantine wie ein Präludium zu Gillo Pontecorvo´s Dokudrama über Ereignisse aus dem algerischen Unabhängigkeitskrieg La Battiglia di Algeri. In beiden Fällen handelt es sich um bahnbrechende Rekonstruktionsarbeiten im Bereich des dokumentarischen Realismus.

Auguste Raffet: Prise De Constantine. Paris 1838 (MePri-Coll.)

Der auf intensiver Recherche beruhende journalistische Impuls, den Auguste Raffet in die serielle Ereignisgrafik der Zeit einbrachte und den er in der Folgezeit noch weiter intensivierte14 weist ihn als eigentliche Gründungsgestalt des Genres der dokumentarischen Graphic Novel aus, als Vorläufer eines Jacques Tardi, Emmanuel Guibert oder Joe Sacco. Man würde die kunsthistorische Bedeutung Raffets jedoch verkennen, wollte man sie alleine auf diesen spartengebundenen Aspekt beschränken. Das tragende und richtungsweisend Element seiner graphischen Darstellungen lag nämlich in einer ausdrucksstarken Choreographie von Menschenmassen. Er griff dabei auf Jacques Callots pulsierende Wimmelbilder zurück, verlieh dieser Tradition jedoch einen ganz neuen dynamisierten Gehalt. Raffet hat damit nicht nur inspirierend auf die Dramaturgie von Horace Vernets egalitären Kriegsdarstellungen eingewirkt, sondern auch ganz entscheidend den jungen Gustave Doré inspiriert. Dieser hatte sich in seinen Darstellungen des Krimkriegs und des Sardinischen Kriegs, sowie in seinen vielen Großstadtschilderungen zu einem Spezialisten für effektvolle grafische Massenszenarien entwickelt und hat damit selbst wiederum entscheidend auf die theatralischen Massendarstellungen in die Kunst des Expressionismus eingewirkt.

Raffets Bibliograph, der Zeichner und Graveur Hector Giacomelli, der auch ein Mitarbeiter von Gustave Doré war, hat diese expressiven Qualitäten der Grafiken Raffets besonders hervorgehoben. Dieser habe, so heißt es in Giacomellis Werkverzeichnis von 1862, „die Essenz des Krieges selbst in ihrer vibrierenden Emotionalität erfasst.“15 Das vorletzte Blatt von La Prise de Constantine ist in dieser Hinsicht eines der eindrücklichsten. Wie ein Katarakt ergießen sich hier die fliehenden Bewohner von Constantine in einem Akt kollektiven Selbstmords über die Klippen der nahen Schlucht. Auf prophetische Weise scheint hier bereits die Tragödie von Kherrata präfiguriert, mit der im Mai 1945 der zweite Algerienkrieg eingeleitet wurde. Im Zuge einer Vergeltungsaktion des französischen Militärs  wurden damals unzählige Einheimische von den Klippen einer Schlucht in den Tod getrieben. Im Zusammenspiel mit dem letzten Blatt des Mappenwerks, das eine Truppeninspektion der Invasoren vor den Toren Constantines zeigt, gelingt es Raffet einen suggestiven Ausblick auf eine koloniale Zukunft zu eröffnen, in der sich Invasoren und Einheimische in unerbittlicher, selbstzerstörerischer Feinschaft gegenüberstehen. Der anfänglich kolonialbegeisterte Alexis de Toqueville hatte eine solche düstere Perspektive bereits zu Ende der 1840er Jahre wie folgt formuliert: „Algerien wird früher oder später ein bewaffnetes Lager werden, in dem zwei Völker so lange gnadenlos aufeinander losgehen bis das eine oder andere ausgerottet sein wird.“16

Alexander Roob, August 2011

Auguste Raffet: Prise De Constantine. Paris 1838 (MePri-Coll.)

Anmerkungen: 

1 aus: Alexis de Tocqueville, Travail sur l’Algérie (1841), zitiert nach: A. d. Tocqueville: Kleine Politische Schriften, hg. von Harald Bluhm, Berlin 2006, S. 109

2 eigentlich: Abd al-Qadir al-Dschaza’iri

3 > David Kunzle, Chesu Christo, Christian iconography in Korda’s image. In: Tricia Ziff ed., Che Guevara: Revolutionary and Icon. New York 2006

4  Der französische Politikwissenschaftler Olivier LeCour Grandmaison beschäftigt sich in seiner 2005 erschienenen Publikation Coloniser, Exterminer – Sur la guerre et l’Etat colonial mit den weitreichenden Folgen des ersten Algerienkriegs und seiner rassistischen Ausrottungsstrategie.

5> Ulrich Keller, Kriegsbilder, Bilderkriege. Die Erfindung der Bildreportage Im Krimkrieg, MePri-Archiv, 22/10/2007  https://meltonpriorinstitut.org/pages/textarchive.php5?view=text&ID=10&language=Deutsch

6 Assia Djebar erwähnt in ihrer Beschreibung der Einnahme Algiers die stolze Anzahl von 4 Malern, 5 Zeichnern und einem runden Dutzend Graveure. (Fantasia, Zürich 1990, S. 16)

7  Zu Baudelaires Vernet-Verriß: Dolf Oehler, Pariser Bilder 1 (1830-1848). Frankfurt 1979. S. 100 ff.

8  > Alexander Roob, Wider Daumier. Eine Revision der frühen französischen Karikaturbewegung und Sozialgrafik. MePri-Archiv 03/06/2010.

9 Der von Raffet illustriere Reisebericht Anatole Demidoffs „Voyage Dans La Russie Méridionale Et La Crimée par la Hongrie, la Valachie et la Moldavie“ war zu Beginn des Krimkriegs 1854 in Paris erschienen.

10 Der Radierzyklus Ruinas de Zaragoza von Juan Galvez und Fernando Brambila, der die Belagerung von Saragossa dokumentiert, konzentriert sich eher auf die pittoreske architektonische Kulisse der zerstörten Stadt als auf die Geschehnisse der Kampfhandlungen.

11  Es handelt sich um Blatt 30 mit dem Titel „Estragos de la guerra,“ das auf einen Vorfall bei der Belagerung Saragossas zurückgeht.

12 Barnett Singer und John Langdon zeichnen in ihrer 2004 erschienenen Publikation „Makers and Defenders of the French Colonial Empire“ ein eher positives Bild von Bugeaud, das dessen agarreformerische Tätigkeiten in den Vordergrund rückt. Eine Verantwortung für das ihm zeitlebens zugeschriebene Massaker in der Rue Transnonain verneinen sie, da der betreffende Sektor nicht in seine Zuständigkeitsbereich gehört habe.

13  Pierre Ladoue zitiert aus Briefen Raffets an seine Verleger, die Gebrüder Gihaut, aus denen eine mehrmonatige Recherchetätigkeit in Marseille und in Paris hervorgeht. (Un peintre de l’epopee francaise, Raffet. Paris 1946, S. 60 ff.)

14 Den Höhepunkt von Raffets grafischem Dokumentarismus stellt seine Rekonstruktionsarbeit  der Belagerung von Mazzinis Zweiter Römischer Republik durch die Truppen von Napoleon III dar. An dem aus 36 Lithographien bestehenden Mappenwerk „Expedition et Siege de Rome“ arbeitete er neun Jahre lang, von 1850 bis 1859.

15 in: H. Giacomelli: Raffet. Son Oeuvre Lithographique et Ses Eaux-Fortes, Paris1862.

16   zitiert nach: John W. Kiser: Commander of the Faithful. The Life and Times of Emir Abd el-Kader. New York 2010, S. 217

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